Von der Münchener Zeitschrift HILFE eingeladen, hielt ein Teil der Hamburger karoshi-Redaktion im Sommer 1999 einen gemeinsamen Vortrag, worin sie, den Titel der letzten Ausgabe –"karoshi. Zeitschrift gegen die innere Sicherheit des Subjekts."- erläuternd, die vier Seiten einer Medaille vorstellten:

Das deutsche Tetraeder

Lässt sich so etwas wie eine spezifisch deutsche Subjektivierung theoretisch dingfest machen?

Gibt es so etwas wie ein deutsches Subjekt, das in spezifisch deutscher Weise seine innere Sicherheit findet?

Die Präzisierung dieser etwas sehr allgemeinen Fragestellung wurde vom sogenannten Lauf der Dinge besorgt, d.h. in diesem Fall dem Beginn des Krieges Deutschlands und der NATO gegen die BR Jugoslawien.

Davon ausgehend, daß sich so etwas wie eine spezifisch deutsche Subjektivität nur im Zusammenhang mit so etwas wie nationaler deutscher Identität untersuchen läßt, hat dann beides im Krieg seinen Ernstfall.

Daraus ergab sich die Ausgangsfragestellung, wie denn der deutsche Kriegsdiskurs genau funktionierte, und wie sich in diesem Kriegsdiskurs Deutschland mit sich selbst über sich und seine Identität versicherte.

In der Diskussion über den Kriegsdiskurs wurde relativ schnell klar, daß das, was an diesem Diskurs am meisten frappierte, der universelle Einsatz der deutschen Vergangenheit zu Zwecken der deutschen Kriegslegitimation durch die rotgrünen KriegsaktivistInnen war, verdichtet im Einsatz der Chiffre "Auschwitz" durch Knalltüten wie Scharping. Dabei wurde dann aber auch klar, daß der Kriegsdiskurs und daß das, was da abging, in einem Zusammenhang mit anderen "vergangenheitspolitischen" Debatten der letzten Zeit zu sehen ist.: die sog. Walser-Debatte, die Mahnmaldebatte und die Diskussionen um die sog. Wehrmachtsausstellung, die just zu dieser Zeit wieder nach Hamburg kam und so ohnehin zu Aktivitäten verschiedener Art Anlaß gab. Was also bei der Sichtung dieser Debatten der letzten Zeit heraus kam, war

das deutsche Tetraeder als neues nationales Ding.

Dabei wird davon ausgegangen, daß diese vier Debatten in sehr vielfältiger Weise miteinander in Zusammenhang stehen, teilweise direkt aneinander andocken, sich teilweise auch direkt widersprechen, insgesamt aber, als Zusammenhang, durchaus funktionieren. Sie funktionieren, als vier Seiten einer Medaille, als, und das soll die These sein, als Neuzusammensetzung nationaler Identität über neue Strategien von Vergangenheitspolitik. Neuzusammensetzung deshalb, weil auch in bezug auf Fragen nationaler Identität ein Bruch zu verzeichnen ist, dem man vielleicht den Namen Rot/Grün geben kann, und der sich dadurch auszeichnet, daß die deutsche Vergangenheit, der NS und die Shoah, nicht mehr geleugnet, relativiert, abgegrenzt werden, sondern daß genau all das zum offensiven Moment einer neuen deutschen Identität gemacht wird.

Wie genau die Debatten funktionieren und wie sie zusammenhängen, soll nacheinander gezeigt werden anhand des Kriegsdiskurses mit einigen Anmerkungen zur Walser-Debatte, der Wehrmachtausstellung schließlich der Mahnmaldebatte. Gerade in dieser Reihenfolge lässt sich die Zunahme einer Ratlosigkeit oder Verwirrung aufzeigen wenn man sich als antinationalen linken Menschen sieht, da es zunehmend schwerer bis unmöglich wird, innerhalb oder auch außerhalb dieser Debatten so Position zu beziehen, daß man sich unmißverständlich gegen das offensiv national-identitäre Moment des jeweiligen Zusammenhangs wenden kann.

Man hätte der rot-grünen Regierung alle möglichen Gemeinheiten und Verbrechen zugetraut, aber nicht, daß gerade sie dazu befähigt sei, deutschen Geschichtsrevisionismus innerhalb eines halben Jahres reibungslos in kriegerische Praxis umzusetzen. Dieser Durchmarsch wird von einem Vergangenheitsdiskurs begleitet, der ebenfalls in dieser Form von einer naßforschen Schröder-Regierung der Spätgeborenen nicht zu erwarten war, und der auch andere Zeitgenossen z.T. in befremdetes Erstaunen versetzt. So schreibt der Schriftsteller Michael Kleeberg in der Welt unter dem Titel: "Fremd ist nur der Überbau" (22.05.99) über ein Gespräch zwischen Bernard-Henry Lévy und Joschka Fischer:

"Das interessanteste jedoch war die Antwort Joschka Fischers auf Lévys Frage, was denn der Zement sei, der das heutige Deutschland zusammenhalte, der Urkonsens, der Anfangsmythos, so wie die Revolution von 1789 für Frankreich. Fischer antwortete, das sei, so seltsam es sich anhöre, für die Bundesrepublik wohl Auschwitz.

Es lohnt, eine Weile innezuhalten und zu überlegen, was ein solcher Satz bedeutet. Ein Staat, so scheint mir, der tatsächlich auf Auschwitz beruht, kann nur eine Finalität haben, nämlich zu verschwinden. Die Chiffre Auschwitz kann vieles bedeuten, eines jedoch nicht: eine Konstruktionsvorlage. Ein Staat Deutschland, der statt auf den Toten seiner Revolution auf den Leichen der von seinen Vätern Vergasten ruhte, dessen einzige Aufgabe wäre es, sich selbst und seinen Namen abzuwickeln. Tiefstes Befremden."

Während Kleeberg hier (vermeintlich) die Position des konservativen gesunden Menschenverstands einnimmt und vor nationszersetzenden Konsequenzen des Hantierens mit der Chiffre Auschwitz warnt, macht Fischer eine Parole zum Grundpfeiler deutscher Identität, die in den letzten Jahren noch als Protest gegen die deutsche Vergangenheitsverarbeitung gemeint war: ‚Deutschland denken heißt Auschwitz denken.‘

Die Begründungen für den deutschen Krieg gegen Jugoslawien lassen sich in diesem Zusammenhang noch am ehesten unter der Rubrik ‚legitimatorischer Zynismus‘ verbuchen. Die in den ersten Kriegswochen allgegenwärtigen KZ- SS- und Auschwitz-Vergleiche waren derartig haarsträubend, daß sie z.T. noch während des Kriegs von denen, die sie vorgebracht hatten, wieder zurückgenommen wurden, als sie ihre Funktion erfüllt hatten. Wenn ausgerechnet Gerhard Schröder jetzt die "antimilitaristischen Fundamente" der Bundeswehr betont und behauptet, daß der Kriegseinsatz im Kosovo "jedem" gezeigt habe, daß die Bundeswehr "tatsächlich eine Friedensstreitmacht" und "keine Eroberungs-Armee" sei, "die andere Länder unterwirft" (SZ 21.7.99), dann mangelt es diesen Aussagen an einer gewissen Glaubwürdigkeit. Eher sind sie Ausdruck der souveränen Frechheit der neuen deutschen Großmacht, deren Staatschef als erster Ansprüche auf die ‚Neuordnung‘ des Balkans anmeldet.

Die Politik des vereinigten Deutschland gegenüber dem als ‚Völkergefängnis‘ und ‚Kunststaat Versailler Prägung‘ apostrophierten Jugoslawien hatte sich im übrigen in den frühen 90er Jahren zunächst in die direkte Kontinuität deutsch-völkischer Außenpolitik gestellt und konnte erst durch die rot-grüne Verschmelzung von Menschen- und Volksgruppenrechten mit den Weihen antifaschistischer Moral versehen werden. (Einer Moral, die wiederum die deutschen Vertriebenenverbände über den Krieg gegen das vermeintlich ‚Deutsche in Serbien‘ selbst von altmodischen Revanchisten zu Opfern des Vertreibungsfaschismus adelte.)

Auch in den geschichtspolitischen Debatten der BRD vertritt Schröder den traditionsnationalistischen Part derer, die deutsche Großmachtpolitik eher trotz Auschwitz betreiben wollen, und die bestenfalls Holocaustgedenkstätten akzeptieren können, zu denen man gerne geht.

Bei weniger grobschlächtigen Kriegsbefürwortern zeigte sich allerdings auch schon jene projektive Schizophrenie, die aus der historischen deutschen Schuld den aktuellen Auftrag zur Intervention auch und gerade dort ableitet, wo früher die Wehrmacht gewütet hat.

Als Beispiel sei hier nur der Historiker Götz Aly genannt, der einerseits detailliert Kontinuitäten deutscher Balkanpolitik beschreibt und sich andererseits über die Projektion des Deutschen auf Serbien in hemmungslose Gewaltphantasien gegen einen imaginierten großserbischen Nationalsozialismus hineinsteigert:

"Ein Volk, ein Großserbien, ein Führer. [...] Diese geistige Verbunkerung läßt sich nicht anders aufbrechen als durch Gewalt von außen. [...] Serbien hat sein Recht auf den Kompromiß von Rambouillet verwirkt, weil die serbischen Einsatzkommandos Völkermord im Namen des serbischen Volkes begehen [...] Am Ende des Krieges wird ein internationales Militärtribunal, wie einst in Nürnberg, über die Kriegsverbrecher zu richten haben." (taz 17./18.4.99)

Über die Frage ob der rot-grüne Kriegs- und Vergangenheitsdiskurs auch in fernerer Zukunft Bestand haben kann, wäre nur zu spekulieren.

Die absolute Negativität der NS-Geschichte kann für Deutschland jedenfalls momentan nur produktiv gemacht werden, wenn sie sich in etwas anderem positivieren kann. Dieses andere ist sozusagen das andere seiner selbst des total geläuterten Deutschlands, das in die Fratze seiner eigenen Geschichte blickt. (In diesem Fall der ‚Unrechtsstaat Jugoslawien‘)

Werden die deutschen Verbrechen tatsächlich zum Gründungsmythos des neuen Deutschland, so wird diese Nation in ihrer eigenen Sicht zum antifaschistischen leeren Zentrum einer Welt werden, die dann die Projektionsfläche einer permanenten Wiederholung deutscher Vergangenheit wäre, die zur totalen Legitimation einer von jeder historischen Kontinuität befreiten deutschen Identität würde.

Die Inflation der Auschwitz-Vergleiche im Kosovo-Krieg schloß paradoxerweise an die sogenannte Walser-Debatte an, die erst zur Debatte wurde, weil Ignatz Bubis als einziger den antisemitischen Charakter von Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels ausgesprochen hatte, den sonst niemand bemerkt haben wollte.

Walsers Klage über die "Instrumentalisierung" des Holocaust "zu gegenwärtigen Zwecken" wurde von großen Teilen der hiesigen liberalen Öffentlichkeit als legitime Rebellion gegen die vermeintliche Allgegenwärtigkeit der "Moralkeule" Auschwitz in der deutschen Gegenwart gesehen.

Während das NATO-Bombardement Belgrads aus dem deutschen Außen- und Kriegsministerium mit einem donnernden ‚No Pasaran‘ und ;Nie wieder Auschwitz‘ begleitet wurde, fiel dem Antisemiten Martin Walser der Part des deutschen Mahners zu, der die Dauerpräsenz der deutschen Vergangenheit dem Wirken dunkler Mächte zuschreibt.

Die unverstellte Aggression, die aber in der Öffentlichkeit kaum noch als solche wahrgenommen wird, ist jedoch nicht die einzige Überschneidung der Walser-Debatte mit dem rot-grünen Kriegsdiskurs

Mit seinem Instrumentalisierungsvorwurf vertritt Walser nur auf den ersten Blick ein zum ‚Krieg wegen Auschwitz‘ fundamental konträres rechtskonservatives Geschichtsbild des ‚Weghörens‘ und ‚Wegdenkens‘.

Walser ist aber nicht nur ein Deutschnationaler, sondern auch ein Gedenkweltmeister.

Er verkörperte im Lauf der Zeit beide Pole der Auseinandersetzung um das ‚wie‘ der Wiedergutwerdung Deutschlands: Den deutschen Trauerarbeiter und den konformistischen Rebellen gegen ‚Political Correctness‘. Daß sein Nationalismus einer wegen und nicht trotz Auschwitz war, reichte im übrigen aus, um ihm jahrzehntelang einen Platz in der westdeutschen Linken zu sichern.

Walser hat recht, wenn er darauf verweist, daß er sich jahrzehntelang immer wieder "neu auf das Thema eingelassen" habe. Schon der Titel "Unser Auschwitz" eines 1965 anläßlich des Frankfurter Auschwitz-Prozesses geschriebenen Aufsatzes verweist auf den identitätsstiftenden Charakter, den die deutschen Verbrechen (nicht nur) für ihn haben. Die historisch-theoretische Frage, warum die Deutschen im Nationalsozialismus tatsächlich zu einer ihrem faschistischen Begriff adäquaten Gemeinschaft wurden, ist für Walser ein Ausweis der Existenz und Legitimität einer nationalen Schicksalsgemeinschaft an sich.

Walser schrieb damals:

"Wenn aber Volk und Staat überhaupt noch sinnvolle Bezeichnungen sind für ein Politisches, für ein Kollektiv also, das in der Geschichte auftritt, in dessen Namen Recht gesprochen oder gebrochen wird, dann ist alles, was geschieht, durch dieses Kollektiv bedingt, dann ist in diesem Kollektiv die Ursache für alles zu suchen. Dann ist keine Tat bloß subjektiv. Dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache."

Walsers Klage über die "Instrumentalisierung" der Shoah einerseits, die Inflation der Holocaust-Analogien in der rot-grünen Kriegspropaganda andererseits können als zwei sich ergänzende Facetten in der Restitution der deutschen Nation beschrieben werden. Gemeinsam ist ihnen der Anspruch der Täternation auf die Definitionsmacht über die eigenen Verbrechen und die Aggression, die jede ‚Einmischung‘ von Opfern oder Nichtdeutschen hervorruft. Walser hat Bubis vorgehalten, er, Walser, sei im Feld der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ beschäftigt gewesen, "da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet; Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet als ich."

Die taz kommentiert eine Demonstration ehemaliger KZ-Häftlinge gegen den Krieg folgendermaßen: "Der Frage, warum sich gerade Überlebende des Naziregimes mit ihren Attacken gegen die Haltung der Bundesregierung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu geißeln, so vehement zur Wehr setzen, wich Goldstein aus. [...] Genozid sei etwas anderes, sagte Goldstein. Und als wollte er seine Aussage bekräftigen, krempelte er seinen rechten Hemdsärmel hoch. Zum Vorschein kam seine Häftlingsnummer."

Der Subtext ist klar: schon wieder eine zynische Instrumentalisierung der Shoah gegen die guten Absichten der Bundesregierung.

Es scheint sich ein multipel produktives ‚anything goes‘ in der deutschen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ zu formieren, das sich in den Auseinandersetzungen um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung noch zuspitzt.

Die Wehrmachtsausstellung, als zweite Überschrift im ParforceRitt durch Bruchstücke zur Neuzusammensetzung Deutschlands, markiert nicht nur eine der wichtigsten vergangenheitspolitischen Debatten der letzten Jahre, sondern hinterläßt auch im Widerspruch von ausgestelltem Material und politisch-identitärer Funktionalisierung das größte Erstaunen.

Schließlich sperrt sie sich durch den Blick auf die Täter den üblichen Identitätstransfers (wir sind die Opfer irgendwelcher anderen oder identifizieren uns per ästhetischer Bearbeitung mit den Opfern, dazu später mehr).

Diese Perspektivwahl funktioniert aber doppelt (wie alles, insbesondere in diesem Abschnitt; beim tetraeder sind wir immerhin schon bei 4 Seiten einer Medaille angelangt): Läßt sie in der Schonunglosigkeit der Ausstellung weder die üblichen Verleugnungsstrategien zu noch eine Flucht zur Opferseite, so ermöglicht sie gleichzeitig eine spezifische Art der Funkionalisierung. Uns geht es hier darum, einige Gedanken zusammenzutragen zur Beantwortung der Frage, wie aus der Ausstellung, die die Unmöglichkeit einer positiven deutschen Identität, d.h. einer Nationalerzählung, auf die sich allgemein positiv bezogen werden kann, recht deutlich herausstreicht (symbolisch recht hübsch im Eisernen Kreuz verdichtet, das im Zentrum der Ausstellung steht), ein Argument für Deutschland werden kann. Was sind die Umschlagspunkte? Was sind die diskursiven Einsätze, die es möglich machen, den verstörenden Gehalt der Ausstellung in einem modifizierten deutschen "wir" aufzuheben? Dazu wollen wir uns größteneils auf Rezeptionsstrategien beschränken und weniger zur Aufbereitung des historischen Materials in der Ausstellung sagen.

Zur Ausstellung selber wurde ab und an von links die Verengung auf die Täterperspektive kritisiert, die mit dem Focussieren der Täter in der Ausstellung einhergeht: Das Foto- wie Schriftmaterial stammt von den Tätern, Aufnahmen z.B. der Roten Armee bleiben ebenso außen vor wie jedwede Zeugnisse der Opfer. Das sei hier aber nur erwähnt, schließlich ermöglicht das ausgestellte Material in seiner Eindeutigkeit kaum positive Identifikationen mit den Tätern, und um diejenigen, die dies dennoch tun oder den kollektiv gegangenen Massenmord leugnen oder relativieren, soll es hier zunächst nicht gehen. Das wäre auch weniger interessant, da recht unstrittig: Nazi-Aufmärsche von alt und jung gegen die Ausstellung gehören verhindert, das Thematisieren von deutschen Massenverbrechen auch per Ausstellung gehört durchgesetzt, darauf können sich antinationale Linke schnell einigen.

Interessanter wird es, wenn mit der Ausstellung für einen auch deutschen Angriffskrieg ausgerechnet gegen Jugoslawien argumentiert werden kann, wenn die Menschenrechtsarmee Bundeswehr gerade aus den im selben Land begangenen Verbrechen ihrer Vorgängerin ihren besonderen Kampfauftrag herleitet. Und das geht, so unsere These, vorrangig mittels eines klassisch aufklärerischen Gestus’ - also eines Gestus’, der, auch wenn er im besseren Fall vielfach selbstreflexiv gebrochen ist, auf spezifische Intervention hinauswill oder kaum noch eine Adressatin hat, eigentlich unser Gestus ist. Und das insbesondere bei diesem Thema: Schließlich sind Linke immer angerannt gegen Kontinuitäten, Verleugnung, Relativierung usw., und wer kann schon etwas dagegen haben, daß einmal deutlich gesagt wird, daß Opi ein Mörder ist.

Der offensichtlichste Umschlagspunkt der Debatte um die Wehrmachtsausstellung ist der Generationendialog, wie er insbesondere von Hannes Heer als Projekt forciert wird: Alle reden miteinander, niemand wird be- oder gar verurteilt, und endlich endet der ‘Krieg in unserem Volk’. Als zweiter Punkt interessiert uns aber noch ein anderer diskursiver Einsatz: Sowohl die Ausstellungsmacher als auch die Linke bemühen immer wieder den Topos vom ‘Mythos der sauberen Wehrmacht’, der durch die Ausstellung "geknackt" worden sei. Dieser "Mythos" wird in aller Regel als "Lüge" ausbuchstabiert, als "Mär", als "Legende". Unsere These hierzu lautet, kurz gefaßt, daß ein zentraler Zug in der Rezeption darin besteht, diesen "Mythos saubere Wehrmacht" als dasjenige zu behaupten, von dem sich die gründliche Modernisierung Deutschlands seit 68 in strahlendem Licht abhebt - die Lüge, auf die dieser Mythos dann heruntergebrochen wird, wird per Aufklärung widerlegt, und das "wir", das schließlich dabei in Form eines Generationendialogs herauskommen soll, ist ein umfassenderer und flexiblerer Entwurf für die deutsche Großfamilie als das alte "wir". Und dieser neue Entwurf negiert das alte "wir" in einem doppelten Sinne: Das "wir" wird in einer Aufklärungsbewegung transformiert, und das geht voller Verständnis für die Tätergeneration gerade dann, wenn deren "wir", das alte "wir" der Tätergeneration in der Nachkriegs-BRD, auf eine "Lüge" heruntergebracht wird.

Sicherlich ist die Wehrmachtsausstellung richtig und wichtig. Sie weist einmal mehr die Beteiligung der Wehrmacht am Massenmord auf allen Befehlsebenen nach, Hannes Heer weist Formulierungen wie "antijüdische Tendenzen im Ostheer" oder "Verstrickung der Wehrmacht in den Holocaust" als verharmlosend zurück, Jan-Philipp Reemtsma schließlich konstatiert, die dargestellten Verbrechen seien Verbrechen des "Jedermann" gewesen. Schließlich war die Wehrmacht, anders als die SS, eine gesamtgesellschaftliche Institution, 18 bis 19 Millionen haben ihr zwischen 33 und 45 angehört. Die sehr eindeutigen Fotos und Landserbriefe an die geliebten Familien daheim beanspruchen daher eine weitgehende Repräsentativität für die generelle Haltung der Deutschen im NS.

Unter diesen Bedingungen muß die Annahme, der "Mythos saubere Wehrmacht" bestünde in einer Lüge, allerdings einen Knacks abbekommen. Wenn diejenigen "Jedermanns", die belogen werden, gleichzeitig auch die Lügner sind - schließlich geht es ja um ihre eigene Tat - muß die Verbreitung der Unwahrheit eine andere Funktion haben als die Vermeidung der Veröffentlichung dessen, was geschah. Denn wem sollten die Lügen gelten? Der internationalen Öffentlichkeit im Allgemeinen bzw. den Alliierten im Besonderen können sie nicht gegolten haben. Immerhin stand das, was heute mühsam "aufgearbeitet" wird, z.B. eben in der Wehrmachtsausstellung, bereits in internationalen Abkommen wie demjenigen von Potsdam. Allein aus der feindlichen Position, die die Alliierten den Deutschen gegenüber einnahmen, muß zumindest zu Anfang zu ersehen gewesen sein, daß diese sich nichts vorlügen lassen. Das Kunststück des "Wir haben von nichts gewußt" muß in etwas anderem bestanden haben als in einer gigantischen Lüge.

Der Clou dieses Kunststücks scheint eher im Subjekt des Satzes zu liegen, im "wir", im individuellen Freispruch durch mythische Aufladung des Kollektivs.

Und diese massenhaft genutzte Idenitifizierungsoption wird durch die Wehrmachtsausstellung konfrontiert und als erweitertes "wir" adressiert. Denn durch eine Ausstellung, die den verbrecherischen Charakter der gesamtgesellschaftlichen Institution Wehrmacht dokumentiert, ist, anders als z.B. im Historikerstreit, das ganze Volk angesprochen, das dann das Verschwiegene oder Verdrängte neu verhandeln kann. Entscheidend könnte dabei der anvisierte Ort der Auseinandersetzung werden: Mit der Thematisierung der Wehrmacht kippte, so Hannes Heer, die Auseinandersetzung mit dem NS "von der großen Historie in die Familiengeschichte." (Hamb. Abendblatt 29.5.99) Die Verbrechen der Wehrmacht unter dem Aspekt der Familiengeschichte zu betrachten, verschiebt die Diskussion auf den innerfamiliären, d.i. innerdeutschen Umgang mit den Tätern.

Besonders bitter sind in diesem Zusammenhang auch die semantischen Verschiebungen. So firmieren die Täter inzwischen in vermeintlich unvoreingenommener Manier zunehmend als "Zeitzeugen". Diese Bezeichnung mag, wenn sie sich auf Opfer bezieht, in manchen Kontexten sinnvoll sein, wenn derart eine erneute Festschreibung aufs Opfer-Sein vermieden werden kann. Etwas vollkommen anderes aber ist es, Täter und Opfer beide unter demselben Begriff zu subsumieren. Was dabei herauskommen kann, demonstriert wiederum Hannes Heer, wenn er sagt, ihm sei es inzwischen egal, ob sich die zu therapierenden Täter selbst als Opfer imaginieren (so geschehen in einem Zeit-Interview diesen Jahres).

Der Dialog der Generationen, in dem offensichtlich alles erlaubt sein soll außer einer Verurteilung der Täter oder gar ein Bruch mit ihnen, antwortet als Rezeptionsstrategie gleichzeitig auf eine gewisse Notwendigkeit: Die Täter sterben aus, und mit ihnen geht das offene Geheimnis, an einem einmaligen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, als deutsches Modell, sich mit dem Kollektiv zu identifizieren. Das "wir" transformiert sich, und der Generationendialog soll innerhalb der Familien, also dem Hort unmittelbar organischer Zusammengehörigkeitsideologie, den Krieg beenden, einen mitfühlenden Einschnitt setzen, der für Kontinuität als Volk sorgt.

Und dieser Einschnitt ist notwendig: Denn spätenstens für die Enkelgeneration kann das, was in der Rede vom "Mythos saubere Wehrmacht" auf mehr verweist als auf eine Lüge, keinen identitätsstiftenden Gehalt mehr haben, und wird wirklich zur Lüge der Großeltern. Und die wird heute durch eine komplexere Mythenbildung abgeräumt.

Entscheidend bei dieser Mythenbildung scheint uns das Zusammenspiel von Zäsur und Überbrückung zu sein, die Überbrückung durch Zäsur.

Dabei konkurrieren zunächst zwei verschiedenen Modelle. Auf der einen Seite ein historisches Ausläufermodell: der konservative Klassiker der Stunde Null 1945. Nazis weg, Köpfe leer, Wiederaufbau und Demokratie allerorten. Dies wurde seit den 60er Jahren zunehmend als Trick, als Lüge kritisiert, der personelle und andere Kontinuitäten, die Überbrückung der Niederlage ermöglichte. Diejenigen, die diese Kritik vorbrachten, schufen sich schließlich ihren eigene Zäsur.

68 wird zur neuen Stunde Null, spätestens in seiner personellen Verlängerung in Gestalt von Rot-Grün, die mit der finsteren Nachkriegszeit gründlich aufgeräumt hat und gerade deshalb heute soviel Verständnis für die Tätergeneration und deren Version aufbringen kann.

Dennoch soll hier keine einfache Kontinuität des immer Gleichen behauptet werden, die bloß besonders tricky daherkommt. Rot-Grün ist ein modernisierender Wandel.

Was sich an der old school Variante von Stunde Null 1945 gegen eine rot-grüne Affirmation sperrt (neben der Tatsache, daß sie noch nicht alles komplett vergessen haben, was sie einst zu Kontinuitäten etc. kritisiert hatten), läßt sich über das grundsätzliche Funktionieren von Gründungsmythen erklären: Der Mythos des Mythos läßt sich als Urszene beschreiben, in der eine Gemeinschaft sich durch eine Versammlung konstituiert, in der sich alle die eigene Geschichte erzählen und sie so verbindlich machen. Und das macht die Gemeinschaft selbst. Das Selbstschöpferische dieser Figur ist aber 1945 nicht zu haben: Die Stunde Null 1945 war eine Niederlage, die Zerschlagung der Volksgemeinschaft von außen. Anders 1968: Von innen, in Abgrenzung zum verlogenen braunen Sumpf der 50er und 60er Jahre, begründete sich das zivile Deutschland. Noch besser wäre 1989 als Volksrevolution, aber das scheint u.a. wg. historischer Nähe bisher noch nicht so recht zur realitätsmächtigen Mythengründung zu taugen.

Diese Selbsterschaffung macht schließlich auch noch eine andere Kontinuität durch Zäsur möglich. Denn die Focussierung der Täter, die Betonung der kollektiven Durchführung eines Vernichtungskriegs steht im krassen Widerspruch zur arroganten Dreistigkeit, mit der die überlebenden Opfer des Vernichtungsprogramms in der Debatte um Entschädigungszahlungen behandelt werden. Abseits des Zusammenspiels von Schröderscher Schlußstrichpolitik, der von ihm inkarnierten Staatsraison und eher grüner Gedenkweltmeisterpolitik interessiert uns hier eher ein Punkt, der mit dem Generationendialog als einer Rezeptionsstrategie zusammenhängt.

So erweist sich eine Beschränkung auf die Täter als Möglichkeit, sich schließlich auch nur noch mit ihnen zu unterhalten. Und das funktioniert besonders gut, wenn die vielbeschworenen Tätertraumata als Schuldtraumata gefaßt werden. Vielfach wird in aufklärerisch-therapeutischer Geste zumindest implizit unterstellt, sie seien einer schmerzhaften Einsicht in die Schrecklichkeit der eigenen Verbrechen geschuldet.

Dagegen wäre zu diskutieren, ob nicht im "Dialog der Generationen" ein Haufen traumatisierter Täter erst produziert wird, denen im therapeutischen Setting erst durch die Ausstellung und die damit verbundene Erinnerung an ihre Taten zu Bewußtsein kommt, wie schrecklich für die Opfer sie diese unmittelbar nach dem Krieg gefunden haben müssen. Das heißt natürlich nicht, zu leugnen, daß es massenhafte Traumatisierungen gegeben hat, und das Ganze doch wieder als Frage von Wissen und Lüge abzuhandeln. Diese Traumatisierung aber nicht als allgemeines Kriegs- oder Schuldtrauma, sondern als Niederlagentrauma zu thematisieren, paßt in das Projekt Generationendialog nicht so recht hinein. Wenn es die militärische Zerschlagung der Volksgemeinschaft war, die deren wichtigster pathischer Projektion, der antisemitischen, eine traumatisierende Wendung gegeben hat? Wenn die panische Angst vor gnadenloser jüdischer bzw. jüdisch-bolschewistischer Rache, als Ausdruck des eigenen Hasses ohnehin ein zentraler Bestandteil dessen, was im antisemitischen Wahn die jüdische Weltverschwörung ausmacht, zu überwältigend wurde für das soldatische deutsche ego? Wenn deshalb die Opfer nach dem Krieg und bis heute eben nicht als Opfer der eigenen Mordmaschinerie relevant waren, sondern als potentielle Rächer aggressiv abgewehrt werden müssen? Die Tätertraumata so zu fassen, würde den Dialog mit Opi nicht gerade erleichtern. Um die Opfer in der Entschädigungsdebatte aber als dreiste BittstellerInnen abtun zu können, ist es sicherlich praktischer, davon auzugehen, daß wir alle zusammen doch schmerzhaft an der Aufarbeitung der traumatisierenden Schuld arbeiten.

Damit soll nun nicht behauptet werden, es würde ausschließlich die Variante des Schuldtraumas verhandelt. Genausowenig läßt sich der ‘Dialog der Generationen’ als bereits hegemonial durchgesetzt beschreiben.

Als Projekt aber ließe gerade die Selbsterschaffung des geläuterten Deutschlands, die mythisierte Zäsur, es zu, dieses Niederlagen-Trauma, quasi die "Stunde Null" des deutschen Nachkriegs-Individuums, in der Gestalt des "Zeitzeugen", des von sich selbst Befreiten oder des durch die Übermacht der eigenen Schuld Verstummten als eine Möglichkeit deutscher Identität per Generationendialog in die gesamtdeutsche Großfamilie integrieren (Mythos der Nation, ihre unvermittelte organische Einheit). Es ist daher nur konsequent, wenn sich heute der mythische Kern der Vorstellung von der sauberen Wehrmacht auch ohne saubere Wehrmacht erhält: Als "Wir", das aller Kriegstoten gedenkt, unvoreingenommen und nicht urteilend miteinander redet - und das, ausgehend von ihrer selbstgeschaffenen Stunde Null 1968, sogar die "Stunde Null" 1945 in ihrer Affirmation zu überbrücken in der Lage ist.

Diese komplexere Mythenbildung antwortet zum einen auf den Generationswechsel qua Wegsterben der Täter. Zum zweiten zeichnet sich eine offensive Lösung des zentralen Problems deutscher Identität seit 1945 ab, an die die Neue und alte Rechte, die Auschwitz mittels verschiedener Strategien aus der deutschen Geschichte streichen wollte, nicht im Traum gedacht hätte. Und diese rot-grüne ‘Lösung’ vermag Momente diskursiv zu integrieren, die unsereins bisher für eher nicht entwendbar gehalten hat. Allerdings nicht ohne eigentümlich anmutende Zungenschläge. So formulierte Michael Naumann, amtierender Staatsminister für Kultur, die Aufgabe des Mahnmals für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas sei es, Auschwitz, "diesen zentralen Bestandteil unserer nationalen Identität, ungeschmälert an die nächsten Generationen weiterzugeben."

Verglichen mit den bisher vorgetragenen Feldern stellt sich die Auseinandersetzung um das zentrale Mahnmal in Berlin erstmal als nahezu undurchschaubares Positionsknäuel dar. Das in den anderen Bereichen offensiv verhandelte Thema des Verhältnisses von Berliner Republik zur NS Täter-/Opferdichotomie muß bei der Mahnmalsdiskussion erst mühsam entborgen werden. Wir haben in der Diskussion um diesen Teil des Vortrags häufiger festgestellt, daß es an vielen Punkten nahezu unmöglich ist, eindeutige Urteile über in der Debatte geäußerte Positionen zu fällen. Daß dies mehr ist als ein rein persönliches Problem, wurde auch daran deutlich, daß in Zeitungen wie der jungle world oder der konkret zu diesem Thema erst geschrieben wurde, als die Feinde klar auszumachen waren. Ihr werdet es ab jetzt also mit vielen offenen Fragen zu tun haben.

Die Planungs- und Auseinandersetzungsphase um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" dauert nun mittlerweile seit über 10 Jahren an. Es ist in dieser Zeit viel von Schuld und Sühne die Rede gewesen. Auffällig an den unterschiedlichen Argumentationslinien, die zusammen die sogenannte Mahnmals-Debatte ergeben, ist jedoch – gerade auch im Vergleich zu den bisher behandelten Bereichen -, daß eine Bejahung deutscher Tat und Schuld unabhängig von der Benennung der Täter und Täterinnen zu funktionieren scheint. Wird zum Beispiel in der Auseinandersetzung um die Wehrmachtsaustellung immer mal wieder vom deutschen Massenverbrechen gesprochen, scheint es hier um etwas anderes zu gehen.

Hanno Loewy hat 1995 zu seiner Sicht auf die Debatte folgendes formuliert:

"Es wäre ein mutiger Schritt, diesen Wettbewerb als das zu belassen, was er tatsächlich war: Ein soziales Experiment, quasi ein Laborversuch, in dem alle abgründigen Phantasien, alle, alle Deckerinnerungen und Schuldkomplexe, alle absurden Sinnstiftungen und Heilserwartungen zu ihrem Ausdruck kommen, die die deutsche Gesellschaft gegenüber ihrer antisemitischen Großtat im Untergrund ihres Bewußtseins entwickelt hat. Man könnte das Gelände für eine Dauerausstellung dieser Entwürfe zur Verfügung stellen. Und es wäre mehr für das gesellschaftliche Lernen über den Holocaust getan, als wenn eine dieser dreidimensionalen Beschwörungszeremonien realisiert werden würde."

Wir werden uns nun im folgenden auf zwei Punkte des "sozialen Experimets" Holocaust-Mahnmal konzentrieren: zum einen auf den Problembereich deutscher Identitätskonstitutionen in ihrer Bezugnahme auf Auschwitz und zum anderen auf die Frage, inwieweit das Mahnmal zusammenhängt mit dem derzeit stark supporteten Modell ‚Berliner Republik‘.

Ein Bedürfnis nach Identifikation scheint umzugehen um in Deutschland.

Dieses Bedürfnis äußert sich auf unterschiedliche und gegeneinanderlaufende Arten: zum einen über Identitätsfestschreibungen, sprich: dem neuerlichen Zementieren tradierter Trennungslinien, zum anderen über die genau entgegengesetzte Linie: dem Identitätstransfer, also einer Imagination deutscher BetrachterInnen und Erinnerungskulturschaffender als jüdische Opfer.

Für das Modell der Identitätsfestschreibung kann zunächst exemplarisch der Mahnmalsentwurf von Christine Jackob-Marks u.a. stehen, wo auf einer riesigen Grabplatte die Namen der Juden eingeschrieben werden sollten, derer dann von den Deutschen gedacht würde – Doppelnennungen waren in diesem Entwurf nicht vorgesehen. Ein besonderer Clou bei diesem Entwurf war noch die Planung, daß sich das Denkmal darüber finanzieren sollte, daß Deutsche sich einen jüdischen Namen kaufen können, sozusagen die Patenschaft für ein jüdisches Opfer der Deutschen übernehmen sollten.

Auch die Äußerung Dohnanys aus dem Kontext der Walser-Debatte kann wohl eindeutig unter dieser ersten Kategorie gefaßt werden. In einem sogenannten ‚Offenen Brief‘ an die FAZ formulierte er Ende letzten Jahres:

"Wer in unseren Tagen zu diesem Land in seiner Tragik und mit seiner ganzen Geschichte wirklich gehören will, wer sein Deutschsein wirklich ernst und aufrichtig versteht, der muß sagen können: Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht; wir haben den Holocaust begangen; wir haben den Vernichtungskrieg im Osten geführt." Dieses zunächst einmal deutliche deutsche Schuldbekenntnis impliziert in seiner Definition dessen, was deutsch ist, einen neuerlichen Ausschluß jüdischer Deutscher. Bubis reagierte dann auch dementsprechend mit der Frage, wie er denn bitte seiner Tochter erklären solle, daß sie verantwortlich sei für den Tod ihrer Großeltern im Konzentrationslager.

Beim Identitätstransfer wollen wir uns jetzt auf die deutsche Vorstellung des Opferseins konzentrieren.

Die klassisch antisemitisch verdrehte Darstellung der jüdischen Opfer als Täter und Täterinnen ist eher in anderen vergangenheitspolitischen Diskussionen wiederzufinden. Zum Beispiel bei der Diskussion um die Entschädigungsfondpläne der rot-grünen Regierung, wo die Vertreter der jüdischen Opfer auf einmal als "Haifische im Anwaltsgewand" auftauchen. Wir wollten jedoch nicht unerwähnt lassen, daß es auch bei der Mahnmals-Debatte immer wieder Stimmen gab, die Planung und Ausführung des Denkmal-Wettbewerbs auf die Macht jüdischer Lobbypolitik zurückführten.

Wie im Teil über die Wehrmachtsausstellung bereits angeklungen, hat die deutsche Opfer-Imagination bereits eine recht lange Tradition: Waren die Deutschen nach 1945 wahlweise 12 Jahre lang von Hitler und seiner Führungsclique unterjocht und später dann zu Unrecht von den Alliierten mit Kollektivschuldvorwürfen bombadiert worden – von der unschuldigen Vertreibung aus ihren östlichen Heimatgebieten ganz zu schweigen -, so sind sie heute Opfer jüdischer antideutscher Propaganda wie bei Augstein, Opfer des – inneren oder politisch korrekten – Zwangs zur Auseinandersetzung mit der deutschen Tat oder eben Opfer der deutschen Geschichte selbst. Diese letztere Spielart soll uns im weiteren besonders interessieren.

Sie stellt insofern etwas vollkommen neues dar, als daß diese Vorstellung zunächst ohne die Benennung von Tätern oder Täterinnen auskommt. Ein Großteil der derzeitigen deutschen Erinnerungskultur setzt auf die Empathie mit den Opfern, und vom Mitfühlen zum Einfühlen ist es bekanntlich kein großer Schritt.

Angebote der Identifizierung mit den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik gab es bei den Entwürfen für den Mahnmals-Wettbewerb zu genüge. So zum Beispiel die große Gruppe der Wettbewerbsbeiträge, die bei ihren Darstellungsversuchen der Shoah mit Motiven wie tiefen Abgründen, schwarzen Löchern und Kratern arbeiteten. Diese Form der Darstellung in ihrer geplanten Größe evoziert schnell ein Bild von Auschwitz als unbegreiflicher Naturkatastrophe, bei deren – ästhetisch nachgebildtetem - Anblick die deutschen Betrachter und Betrachterinnen mit den Opfern in einer Gemeinschaft des Schreckens vor dem Unerklärlichen verschmelzen können. Die Assoziation der mittlerweile nahezu offiziellen deutschen Wendung ‚Zivilisationsbruch‘ wird hier provoziert. Eine Wendung, die in der letzten und entscheidenden Bundestagsdebatte über das Mahnmal übrigens in nahezu allen Wortbeiträgen verwendet wurde.

Auch über die Aneignung explizit jüdisch tradierter Symbolik funktioniert der Identitätstransfer – zumindest lassen sich die entsprechenden Entwürfe so rezipieren, bedenkt man den vorgesehenen Standort. Die Abstaktion von den jüdischen Opfer des deutschen Massenmords hin zu einer Betonung des Verlustes der jüdischen Kultur für Deutschland, vermittelt die Vorstellung, das heutige Deutschland sei ebenso Opfer von den Nazis wie es die Juden waren.

Eine Frage, die vielleicht angesichts des aktuellen Standes der Mahnmals-Debatte erörterungswert wäre, ist, wie es denn mit Angeboten für deutsche Opfer-Imaginationen beim nun beschlossenen Eisenman-Entwurf bestellt ist. Schließlich gibt es auch hier Möglichkeiten der Identifizierung mit den Opfern: die Besucher und Besucherinnen befinden sich in einer Art Labyrinth, Orientierungslosigkeit wird vermittelt. Wenn man weit genug hineingeht, ist kein Ausweg mehr zu sehen...

Aber das soll keineswegs eine abschließende Kurzinterpretation des Entwurfes sein – vielmehr die Frage zur Disposition gestellt werden.

Daß die vorgestellte Gegenüberstellung von Identitätsfestschreibung und Identitätstransfer jedoch so einfach dichotom nicht funktioniert, zeigt sich an mehreren Punkten. Immer wieder tauchen beide Strategien miteinander verwoben auf oder kommen sich gegenseitig in die Quere. So ja bereits in unserer Formulierung des Identitätstransfers: Die Kategorie ließe sich schließlich gar nicht erst entwickeln ohne vorherige Identitätsfestschreibung, sprich: der Konstruktion unsererseits, was denn da für Identitäten transferiert werden.

Es ist also kein Herumkommen um die ständige Rekonstruktion der jüdisch-deutschen Dichotomie. Jede Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten des NS im heutigen Deutschland muß sich zwangsläufig an sie zurückwenden um die Täter und Täterinnen benennen zu können.

Unter der Überschrift "Die neue Mitte erschafft sich ihr Zentrum" soll nun versucht werden, das produktive Moment der Mahnmals-Debatte über das nun entstehende Denkmal hinaus etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Wie auch in den vorangegangen Teilen interessiert vor allem, in wieweit gegenwärtige Erinnerungskultur im realexistierenden Deutschland konstitutiv ist für die Erschaffung einer "neuen" Berliner Republik.

James E. Young formulierte Ende letzten Jahres zu diesem Zusammenhang:

"Da keine andere Nation je versucht hat, sich auf dem steinigen Untergrund der Erinnerung an ihre Verbrechen wiederzuvereinigen oder das Erinnern an diese Verbrechen in den geographischen Mittelpunkt ihrer Hauptstadt zu rücken, kann es nicht verwundern, daß dieser Prozeß mit derartigen Schwierigkeiten belastet ist." James E. Young

Die Bedeutung des vorgesehenen Standortes ist bisher nur recht allgemein verhandelt worden, also ausschließlich auf den Standort Deutschland bezogen gewesen. Schaut man sich den vorgesehenen Platz etwas genauer an, dann stellt sich heraus, daß das Denkmal direkt auf einem Abschnitt des ehemaligen sogenannten Todesstreifens der Berliner Mauer gebaut werden soll.

Die Berliner Mauer stand jahrzehntelang symbolisch für die Niederlage der deutschen Volksgemeinschaft und wurde als das Zeichen für die strafende Fremdbestimmung durch die Alliierten rezipiert. Sie war somit ein wesentlich konstituierendes Moment deutscher Opfermythen seit den 60er Jahren.

Es liegt also nahe, den Bau des Mahnmals an dieser Stelle als eine Art Versöhnungsangebot an die Opfer des NS und ihre antideutschen Verbündeten – die Alliierten – zu lesen. Also nicht als eine um Versöhnung bittende Geste sondern als eine Versöhung anbietende. Die Deutschen verzeihen ihren jüdischen Opfern das jahrzehntelange Leiden Deutschlands an seiner Geschichte.

Der konkrete Ort ist jedoch nicht nur mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden. Unterirdisch waren hier zu nationalsozialistischen Zeiten Teile der Führerbunker verborgen. Ein Argument dafür, das Mahnmal an dieser Stelle zu errichten, war die These – so z.B. von den beiden InitiatorInnen Lea Rosh und Eberhard Jäckel formuliert – die Opfer würden sich somit nachträglich über die Täter erheben.

Mal davon abgesehen, daß an der ausgeschriebenen Stelle nicht der eigentliche Führerbunker sondern bloß Hitlers Fuhrpark gelegen war, machte Hanno Loewy in diesem Zusammenhang deutlich, daß eine solche Argumentation nur funktioniert, wenn man gleichzeitig auf alte Führermythen rekurriert. Also auf die Vorstellung, die Täter wären einzig und allein Hitler und seine Helfer gewesen – und hier ist die Guido Knoppsche Definition gemeint, nicht etwa die von Daniel Goldhagen.

Horst Hoheisel setzt mit seinem Vorschlag, das Brandenburger Tor in die Luft zu sprengen, an diesem Punkt an: Er thematisiert in dem zunächst bizarr anmutenden Plan, den Steinstaub, der vom zersprengten Bauwerk übrig bleiben soll, quasi als Asche auf dem vorgesehenen Standort des Mahnmals zu verstreuen, auch das Verhältnis von Täter und Opfern. In der Analogie des Ascheverstreuens wird der Charakter des Mahnmals mitten in der neuen Hauptstadt als Opfer der Deutschen, als Kompensation für den Massenmord als selber bizarr und anmaßend erkennbar. Ist sein Entwurf dementsprechend zu lesen als Metareflexion auf das gesamte Projekt: die nationale Sinnstiftung, die Gefahren des Identitätstransfers von den Opfern zu den Tätern und schließlich auf die (Un)Möglichkeiten der ästhetischen Bearbeitung der Shoah, insbesondere in dem dem Mahnmal gesteckten Rahmen?