Nirgends sicher: Sicherheitswahn in linken und anderen Familien

Kaum etwas hat derart Konjunktur wie der Sicherheitsbegriff. Auf zahllosen Wahlplakaten versprachen so gut wie alle Parteien, künftig für noch mehr Sicherheit zu sorgen. Kaum hatte sich die männliche SPD-Troika nach den ersten verläßlichen Hochrechnungen dem applaudierenden Publikum präsentiert, hob ihr Chef die Innere Sicherheit als eines seiner drei wichtigsten Anliegen hervor. Otto Schily tat sich als würdiger Nachfolger Kanthers und Sprachrohr ausländerfeindlichen Geistes groß, indem er BürgerInnen ohne deutschen Paß als "Belastung" bezeichnete, deren Ausmaß die Grenze der Zumutbarkeit nun überschritten habe.1 Nun wissen wir auch aus berufenstem SPD-Munde, woher der deutschen Nation Gefahr droht. Was, so fragt man sich, treibt PolitikerInnen und WählerInnen dazu, sich ständig und zumeist aus der gleichen Richtung bedroht zu wähnen? Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, soll nun zunächst die bürgerliche Normalität und deren Widerpart, die Anormalität, beschrieben und unter die Lupe genommen werden. Anschließend befasse ich mich mit der Frage, ob und inwieweit die bürgerliche Subjektkonstitution so etwas wie ein Sicherheitsbedürfnis erzeugt. Im letzten Abschnitt geht es dann um einige Highlights gar nicht so anderen, linken Umgangs mit dem Komplex Sicherheit.

Verrückte Normalität

Es reicht ein kritischer Blick, um feststellen zu können, daß der Versuch der Herstellung von Sicherheit nicht auf die bürgerliche Normalität, sondern auf deren vermeintliche Abweichungen zielt. Zum Beispiel werden immer wieder aufwendige Kampagnen gegen sexuelle Gewalt an Kindern lanciert – vom Volksmund mit dem Begriff ‘Kinderschändung’2 belegt. Sie richten sich zumeist gegen ‘Fremde’, ‘Kinderverschlepper’ und ‘Perverse’, die in eine scheinbar heile Familienwelt gewaltsam eingreifen und diese durch ihre Tat zerstören. Dementsprechend empfehlen diejenigen, die sich in Kinderangelegenheiten für kompetent halten, die Kinder mehr in der häuslichen Obhut zu halten und sie so wenig als möglich auf die Straße zu lassen, die insbesondere in Deutschland als ausgesprochen gefährlich gilt. Konsequenterweise werben die Sportvereine mit dem Slogan: "Wir holen die Kinder von der Straße!"

Dabei droht ihnen unmittelbare Gewalt weitaus häufiger und in nahezu jeder Form gerade aus dem Kreis, der in der bürgerlichen Welt als Hort von Sicherheit und Geborgenheit gilt: der Familie. Täglich wird tausenden von Kindern im Schutze der heimischen vier Wände ‘sexuelle’3 Gewalt angetan – von zumeist männlichen Familienangehörigen oder besten Freunden der Familie. Das Bundeskriminalamt geht davon aus, daß jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge unter 14 Jahren Opfer solcher Taten sind. Wenn Kinder sich also vor etwas zu fürchten haben, dann zuallererst vor ihrer lieben Verwandschaft. Spätestens durch die Psychoanalyse sollte bekannt sein, daß die bürgerliche Familie immer Quelle von Bevormundung, Grausamkeit und Unterdrückung unterschiedlichster Art und Intensität im Rahmen der vertrauten Zwangsgemeinschaft ist. Während kürzlich noch PolitikerInnen, PsychologInnen und PädagogInnen über die angeblich so schädlichen Auswirkungen der sogenannten antiautoritären Erziehung auf die Sprößlinge daherschwadronierten, die Hamburger Morgenpost die Frage stellte: "Sind unsere Kinder zu selbstbewußt?" und all dies als ursächlich für Jugendkriminalität und Neofaschismus hingestellt wurde, starben und sterben jährlich tausende Kinder an den Folgen jahrelanger Folter. 30% aller Kinder werden in Deutschland systematisch geschlagen, 70% der Eltern bevorzugen autoritäre Erziehungsmethoden, so eine Umfrage bei Familienoberhäuptern.

Kinder sind zuallererst Objekte, an denen moralisch-ethische Prinzipien exekutiert und elterlicher Frust abgebaut werden. Die Familie ist und bleibt wesentlicher Ort der Vorbereitung und Durchsetzung staatsbürgerlicher Raison und Autorität.4 Auch wenn sich immer wieder Protest gegen diesen Umgang mit Kindern regt und Gewalt in der Familie hin und wieder öffentlich thematisiert wird – an der üblichen Gewichtung der wahrgenommenen Gefährdungsquellen hat dies bislang nicht rütteln können: Die Familie wird weiter als Ort von Sicherheit und Geborgenheit propagiert und idealisiert.

Gefährdete und gefährliche Jugend

In der geschäftigen Erwachsenenwelt werden Jugendliche, die in der Regel noch nicht vollständig auf ihre Rolle als willfähriges, funktionierendes Rädchen in der universellen Verwertungsmaschinerie reduziert sind, in zwiespältiger Weise wahrgenommen. Einerseits gelten sie als ausgemachte Gefahrenquelle: Während sie die verflixten Überbrückungsjahre von der Kindheit zum Erwachsenenalter hinter sich zu bringen trachten, sind sie Zielscheibe einer in den Medien geführten Meinungsmache. Jugend gilt dort als Synonym für Kriminalität, Vandalismus und Drogenkonsum. So fanden Veranstaltungen über ‘Jugend und Kriminalität’ während des Wahlkampfes zuhauf statt, während über Erwachsenen- und Staatsgewalt gegen Kinder und Jugendliche so gut wie nichts zu hören war.

Gleichzeitig gelten die Heranwachsenden "mangels Lebenserfahrung" als besonders anfällig für verderbliche Einflüsse und sollen deshalb durch Beschäftigung, Aufmerksamkeit, Kontrolle und durch Drohungen und besondere Härte vor sich und anderen beschützt werden. Dies impliziert durchaus ein gewisses Verständnis, das allerdings nicht allen Jugendlichen gleichermaßen zukommt: Die Ver- und Beurteilung hängt von den BeurteilerInnen und den zu Beurteilenden ab. Der Mainstream in Politik, Justiz, Polizeiapparat und Medienöffentlichkeit tendiert eindeutig dazu, den Terror jugendlicher Deutschnationaler gegen sogenannte Ausländer, behinderte Menschen und andersdenkende Jugendliche als ‘Jugendsünde’ und weniger gefährliche, ja bisweilen notwendige, vorübergehende Episode zu interpretieren: "Die Jugend muß sich doch auch einmal austoben dürfen!" Handelt es sich hingegen um Jugendliche, die gegen diese deutsche Normalität antreten, oder solche, die möglicherweise statt der normalen legalen, illegalisierte Drogen konsumieren oder anderen als ‘anormal’ qualifizierten Aktivitäten nachgehen, bleibt der Verständnisvorschuß zumeist aus. Diese Heranwachsenden umgibt ein Nimbus besonderer Gefährlichkeit. Der Ruf nach mehr Härte ihnen gegenüber wird von Tag zu Tag lauter.

Doch die bürgerliche Gesellschaft, in der Jugend als besondere Lebensphase- und sphäre erst entstand, schafft auch ein Idealbild von Jugendlichkeit, in dem imaginierte Stereotypen wie Schönheit, Unbeschwertheit, Elan, Energie und anderes mehr zusammenfallen. Die jungen Menschen müssen sich im Spannungsverhältnis von individuellem Dasein als real existierende Jugendliche und angetragener Idealität bewegen und behaupten, immer der Gefahr und den Selbstzweifeln ausgesetzt, diesem Bild nicht genügen zu können.

Bedrohung aus der ‘Fremde’

Wie der sogenannte Sexualverbrecher als von außen kommende fremde Gefährdung der Familiennormalität gilt, so der Ausländer als Gefahr von jenseits der Grenze, die nicht nur das deutsche Familienglück, sondern die Nation als solche mitsamt ihren christlichen Werten bedroht. Wird jedoch ersterer lediglich als gefährliches Individuum angesehen, wird ‘der Ausländer’ zumeist als Kollektiv fremder ‘Art’ und ‘Rasse’ wahrgenommen, das in Form von ‘Schwemmen’, ‘Wellen’ oder ‘hordenweise’ in das Land ‘einfällt’. Menschen ohne deutschen Paß stehen – erst recht, wenn sie ‘dunkelhäutig’ sind, für ‘Kriminalität’, ‘Arbeitsplatzklau’ oder ‘Arbeitsscheu’, für ‘asoziales Verhalten’ und ‘kulturelle Minderwertigkeit’. An diesem Bild ändert sich in der Regel auch dann nur wenig, wenn man den/die eine/n oder andere/n ‘AusländerIn’ persönlich kennt und schätzt. Selbst diejenigen, die ‘AusländerInnen’ als ‘kulturelle Bereicherung’ ansehen, unterstellen in der Regel eine fundamentale Andersartigkeit und differenzieren häufig genug nach rassistischen und/oder klassenmäßigen Kriterien noch zwischen ‘guten’ und ‘gefährlichen’ AusländerInnen. Ob positiv oder negativ konnotiert, Fremde sind und bleiben sie für eine Mehrheit der deutschen BürgerInnen. Aufmerksam wird jedes als abweichend empfundene Verhalten registriert, publiziert und als Beweis für deren vermeintliche potentielle Gefährlichkeit herangezogen. Im "Fall Mehmet" fallen nahezu alle aggressiven Zuweisungen in der Person eines Jugendlichen zusammen. Als deutschsprachiger Inländer mit türkischem Paß, dessen Freundeskreis aus deutschsprachigen InländerInnen mit deutschem Paß besteht und in deren Gemeinschaft er viele der ihm zur Last gelegten Taten verübte, wurde er – gebrandmarkt als ‘asozialer, krimineller Ausländer’ – in ein ihm fremdes Land abgeschoben – unter dem Beifall bzw. mit Zustimmung der RassistInnen aller politischen Couleur.

Sicherheitsbedürfnis und bürgerliche Subjektivität

Habe ich zunächst auf einige Eigenartigkeiten der vorherrschenden Konstrukte von Ursache-Wirkungsketten in Hinblick auf die Sicherheitsdiskussion hingewiesen, so soll es nun um das Sicherheitsbedüfnis selbst gehen. Das bürgerliche Subjekt wird, so meine These, von einem Bündel komplexer, schillernder Affekte mitkonstituiert, die sich unter dem Oberbegriff eines Sicherheitsbedürfnisses subsumieren lassen. Wenn hier die Rede von einem Bedürfnis ist, dann nicht im Sinne eines ‘angeborenen’, ‘urmenschlichen’ oder ‘ureigentlichen’ Bedürfnisses, das sich als identisches Kontinuum durch alle bisherigen menschlichen Daseinsweisen hindurchzöge. Vielmehr scheint mir, daß man es dabei mit einem Ausdruck warenförmiger Vergesellschaftung zu tun hat, einer genuin bürgerlichen Angelegenheit also. Hierauf würde hindeuten, daß der Begriff Sicherheit als Abstraktion erst im Kontext von Eigentum, Waren- und Geldökonomie auftaucht und sich in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft zu einer zentralen Kategorie mausert. Die bürgerliche Gesellschaftsformation erzeugt offensichtlich ein stetiges Verlangen nach Herstellung von geistigen und praktischen Zuständen, die unter der begrifflichen Abstraktion Sicherheit subsumiert werden. Das Sicherheitsbedürfnis gründet demnach auf einem Allgemeinzustand, der auch einen allgemeinen sprachlichen Ausdruck erfordert.

Identitäre Absicherung

Mit der Durchsetzung von Privateigentum auf Basis von Arbeits- und Geldökonomie entsteht eine Gesellschaft, in der dieses Eigentum in all seinen Formen praktisch und moralisch geschützt werden muß. In diesem Kontext entsteht auch der Bezug auf den Nationalstaat als Eigentumsgaranten. Außerdem erzeugt die bürgerliche Gesellschaft eine widersprüchliche Totalität. In ihr agieren Subjekte, deren Individualität sich in besonderen sozialen Beziehungen und Auschließungen konstituiert, die in ihrer Überlebensfähigkeit aber vereinzelte "Geldmonaden" bleiben. Es hängt nahezu auschließlich von deren individuellen Fähigkeiten ab, ob sie sich durch Arbeit, familiäre Beziehungen, Freundschaften oder Solidarverbände das notwendige Geld zu beschaffen in der Lage sind, um sich einigermaßen souverän in einer ihnen in der Regel als äußerlich und anonym entgegentretenden Gesellschaft zu bewegen. Mit welcher Intensität nun immer der dadurch erzeugte Existenzdruck auf die Einzelnen wirken mag, er zwingt sie, sich unablässig mit dem eigenen Fortkommen zu beschäftigen, sich ständig hinsichtlich der Möglichkeiten und eventuell verpaßter Chancen Rechenschaft abzulegen, die individuelle Reproduktionsfähigkeit zu optimieren, das Erreichte abzusichern und zugleich die eigene Kompetenz permanent in Frage zu stellen. Sehnsucht nach Gewißheit und ökonomischer Sicherheit werden zum ständig nagenden Begleiter. Die sich unabhängig vom Willen der Einzelnen durchsetzende und als Konglomerat von Sachzwängen erscheinende bürgerliche Realität bringt auch die Normen und Regeln hervor, die die geistige und praktische Einordnung der zahllosen Gegensätzlichkeiten ermöglichen sollen. Von Kindesbeinen an werden moralische Kodices vermittelt und ethische Verhaltensformen verlangt, die immer wieder den Erfordernissen des Alltags widersprechen und zumeist schon als theoretische Konstrukte Widersprüchlichkeiten aufweisen. Ständig befinden sich die geplagten Individuen mit sich oder den Anforderungen der Existensbewältigung mal im Einklang, mal im Gegensatz. Im Prozeß der Verinnerlichung findet ein ständiges bewußtes wie unbewußtes Hinterfragen allen Denkens und Tuns statt, ein ständiges Positionieren, um sich selbst und den äußeren Anforderungen gerecht zu werden.

Neben der Existenz von Eigentum ist also wesentlich diese ständige Abfolge von Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Moral und Lebenspraxis und innerhalb der unterschiedlichen Lebenspraxen selbst Quelle des Sicherheitsbedürfnisses. Hiermit ist zugleich auf die Problematik der Identität des Individuums und seiner unablässigen Suche nach Identifikationen verwiesen. Das schizophrene Labyrinth tausender ‘falscher’ oder ‘richtiger’ Möglichkeiten zwingt zum ewigen Versuch, Selbstsicherheit durch Selbstvergewisserung und Identifizierung herzustellen – was zugleich immer auch Ausgrenzung bedeutet. Die bewußte wie unbewußte Suche nach dem ‘wahren Ich’ ist also Moment der Herstellung von Sicherheit.

Wie immer ansonsten individuelle Sicherheitsstrategien auch aussehen mögen: Anläßlich tiefgreifender historischer Umbrüche wird ein verstärktes, kollektives Sicherheitsbedürfnis induziert, das sich in äußerst extremen Maßnahmen zur Herstellung von Sicherheit ausdrücken kann. Dies gilt auch für Situationen, die gesellschaftliche Sozialisationstypen mit ihren besonderen Reproduktionsformen in Frage stellen oder auflösen und die als besondere Krise empfunden werden. Individuelle Sicherheitsstrategien gehen dann in kollektiven auf, Gruppen konstituieren sich um gemeinsame Angriffsziele. Dies reicht von der Einsetzung autoritärer Regimes über Kriege bis hin zum Versuch der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen. Im Kontext extremer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen entsteht häufig bei Einzelnen wie bei Gruppen eine Idealisierung des Todes, die in einem Verlangen nach dem ‘Heldentod’ mündet, als Herstellung der letzten, absoluten Sicherheit durch die Erlösung vom Leben selbst. Erst wenn mental mit dem Leben abgeschlossen wurde, tangiert die weltliche Unsicherheit als Episode auf dem Weg zum Tod nicht weiter.

Linke Sicherheit

Als bürgerlich sozialisierte sind und waren die politisch links stehenden Menschen den gleichen, ein Sicherheitsbedürftigkeit konstituierenden Bedingungen ausgesetzt, wie jede andere gesellschaftliche Gruppe auch. Daher verwundert es nicht, wenn ähnliche oder gar identische Ausdrucksformen der Sicherheitsherstellung wie in anderen politischen Lagern anzutreffen waren und sind. Die traditionelle, innerhalb der Linken hegemoniale Gesellschaftsinterpretation hat die Gesellschaft in zwei sich antagonistisch gegenüberstehende Lager eingeteilt: ein bürgerliches und ein proletarisches. Ersterem kamen nahezu alle negativ gemeinten Attribute des bürgerlichen Individuums zu, während letzterem die ‘guten’, vermeintlich nichtbürgerlichen Eigenschaften zugeschrieben wurden. Nachdem sich der linke Volksfrontgedanke seit den 30ern durchzusetzen begann und sich nach dem Krieg etabliert hatte, verlief die Linie zwischen Bourgeoisie und ‘Volk’. Das Proletariat hatte endlich ‘gute’ Verbündete bekommen. Auch wenn heute die Fronten in den aufgeklärteren Teilen der Linken so nicht mehr gezogen werden, herrscht offenbar nach wie vor die Vorstellung, als linkes Wesen stehe man zumindest mit einem Bein schon außerhalb der bürgerlichen Welt. Diese quasi religiöse Dualität von Gut und Böse hat dazu geführt, daß den integrativen Prozessen, dem Nachlassen von Klassenkämpfen, dem ‘Überlaufen’ von Linken zum sogenannten Klassenfeind oder der Auflösung bestimmter sozialistischer Moralcodices mit einer seltsamen Mischung aus Verständnislosigkeit, Verwirrung und Verratsideologemen, begegnet wurde und wird. Wähnt man sich selbst in einem bürgerlich nicht affizierten Lager, fehlen die angemessenen Kritierien zur Beurteilung der Prozesse in den eigenen Gruppen. Immer schon transportierten linke Individuen genuin bürgerliche Sicherheitsbedürfnisse, die als konstitutiv für ihre linke Ideologie gelten können.

Feindbild Intellektuelle

In Deutschland war die Bildung der Nation und mit ihr die besondere bürgerliche Identität historisch einem Prozeß radikaler Durchmilitarisierung aller Lebensbereiche mit extremem Autoritarismus, Obrigkeits- und Knechtschaftsbewußtsein und einer ausgesprochenen Arbeitsapologie geschuldet. In der Phase radikaler sozial-ökonomischer Umbrüche und politischer Krisen nach der Jahrhundertwende machten diverse sozialistische, kommunistische, liberale, reaktionäre sowie faschistischen Strömungen ähnliche ‘Bedrohungen’ aus: ‘Kriminalität’, ‘Vandalismus’, ‘Schmarozertum’ und ‘Arbeitsscheu’ galten ihnen als Dorn im Fleische eines arbeitsamen und arbeitswilligen Volkskörpers. Darüber hinaus stimmten besonders die nationalsozialistischen, faschistischen und bestimmte radikale linke Strömungen bis in die KP hinein in ihrer Beurteilung der Gefahren überein, die angeblich von sogenannten Intellektuellen ausgehen. Dabei herrschte keineswegs Einigkeit darüber, was man unter Intellektuellen zu verstehen habe. Die unklare Denotation ermöglichte unzählige Konnotationen. Als negative Eigenschaften wurden ‘liberale Geisteshaltung’, ‘kosmopolitisches Denken’, ‘Kleinbürgerlichkeit’, ‘Schmarotzertum’, ‘Wechselhaftigkeit’, ‘Prinzipienlosigkeit’, ‘Instinktlosigkeit’, ‘Hysterie’, ‘Lasterhaftigkeit’, ‘Flatterhaftigkeit’ u. a. diagnostiziert. Bei den Blut- und Boden- Ideologen der Rechten gesellte sich der Vorwurf der ‘Wurzellosigkeit’ und ‘Vaterlandslosigkeit’ als besonderer Makel hinzu. Folglich galten die Intellektuellen als gefährliches, zersetzendes Element im Schoß der Gesellschaft, als Antipode zu den tradierten Gewißheiten, zu Sicherheit und Ordnung.

In einer Schmähschrift radikaler Linker anno 1920 tönte es gegen die Intellektuellen: "Der Intellektuellen gewaltig großer Zahl erwehrt euch täglich, stündlich: An den Laternenpfahl! Laßt baumeln sie und hängen lang, Laßt tönen laut und froh den Sang: Hinweg, ihr Bourgeousieknechte, ihr Intellektuell’n!!" Als rufmordendes Schimpfwort gedacht, flog der Begriff Intellektueller zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten und innerhalb ihrer diversen Strömungen hin und her. Alle meinten, bei den anderen ‘Intellektuelle" am Werke zu sehen. Besonders im nationalsozialistischen Bewußtsein kulminierten dann die vielfältigen Attribute in der Konstruktion einer ‘jüdischen Rasse". Zu den ‘typischen" Intellektuellenattributen trat die Assoziation jüdischer Menschen mit ‘Geld’, ‘Kapital’, ‘Geiz’, ‘Verschlagenheit’ und ‘physischer Mißbildung’ hinzu. Auch wenn die Nationalsozialisten die radikalste antisemitische Kraft darstellten, konnten ihre Phantasmen weit über ihre Klientel hinaus auf breite Sympathie zählen. Die linken Parteien Deutschlands waren zwar programmatisch nicht antisemitisch, doch der moderne Antisemitismus traf auch dort auf verbreitete Resonanz.

Bevorzugt kommt für Linke die Gefahr von links

Kleinere wie größere kommunistische Parteien erwiesen sich nach der Niederlage des Nationalsozialismus vielfach als Hort seelisch-emotionaler Sicherheit. Autoritätsgläubigkeit fördernde Strukturen und scholastische Lehren, die das nie durchschaute, stets verunsichernde bürgerliche Wirrwar scheinbar konterkarierten und vermeintlich hinreichend erklärten, befriedigten entsprechende Bedürfnisse. In Deutschland wechselten viele der von ihren Nazi-Eltern autoritär Erzogenen, in ihrem Bestreben, endlich auszubrechen, teils nahtlos, teils nach kurzem Intermezzo aus der muffig-autoritären Familienstruktur in eine selbstgezimmerte, genauso muffige wie autoritäre ML-Parteistruktur hinüber und belebten dort viele der alten Feindbilder wieder. Angesichts des zunehmenden Gewichts geistiger Arbeit und entsprechend zahlreicher Berufsbilder als Konsequenz aus der rasanten Produktivkraftentwicklung der letzten Jahrzehnte richten sich viele der einst explizit Intellektuellen geltenden Attribute gegen andere ausgewählte bürgerliche Individuen und/oder Gruppen.

Auch auf dem innerlinken Schlachtfeld wird der Intellektuellenbegriff nicht mehr als Verbalinjurie verwandt, doch tauchen früher den Intellektuellen zugewiesene Attribute im Kontext einer scheinbar neuen Debatte wieder auf, die in Wirklichkeit die Geschichte der Moderne mal stärker, mal schwächer von deren Beginn an begleitet haben. Ging es schon damals in den linken Parteien und Grüppchen immer auch um die Absicherung ideologischer Gebäude, hierarchischer, patriarchalischer, autoritätshöriger Strukturen und Einflußsphären, scheint es, als wären Gruppen wie die Krisis, die ISF oder die Bahamasredaktion heute von ähnlichen Befürchtungen geplagt. Offenbar sehen sie sich Gefahren ausgesetzt, die nach härtesten verbalen Angriffen und Ausschlüssen verlangen.

Die Krise linker Identitäten, mit einer unaufhaltsamen Anpassung vieler ehemaliger Linker an den Zeitgeist einhergehend, die Abkehr von Teilen der jüngeren Generation von ‘ererbten’ Askese-und Berufungsvorstellungen, eine gewisse Krisenstimmung und sich rapide ausbreitende sowie wieder offen zum Vorschein kommende rassistische, ausländerfeindliche Tendenzen, scheinen eine Eskalierung des strukturell bürgerlichen Sicherheitsbedürfnisses der theoriearbeitenden Linken zu bewirken. Die unerschütterlich geglaubte theoretische wie personelle Basis drohten endgültig wegzubrechen; der Verlust der absoluten geistigen Autorität im eigenen bescheidenen Wirkungskreis scheint vor der Tür zu lauern. Nun schlägt die notwendige Kritik der bürgerlichen Individualität und Subjektivität in ein ziemlich wildes verbales und praktisch ausgrenzendes Eindreschen um, das den nötigen souveränen Umgang mit berechtigter wie unberechtigter Kritik an den diversen, wieder zu Dogmen erstarrten Theoremen kritischer Vernunft vermissen läßt. Bestimmt nicht zufällig werden nun, reichlich spät in Deutschland, Elemente verschiedener poststrukturalistischer und dekonstruktiver Ansätze selektiv wahrgenommen und instrumentell exzerpiert. Man meint damit die geistigen Köpfe der modernen Misere dingfest gemacht und sie zum Teil gar als ihr Verursacher identifiziert zu haben.

Die Subjekritik der KritikerInnen der sogenannten Postmoderne rekurriert immer wieder auf vorgängige oder für die Zukunft imaginierte Menschenbilder (letztere meist dann nur eine Replik auf erstere), die sich im Gegensatz zu den postmodernen Individuen vermeintlich durch so etwas wie eine ‘Echtheit’ oder ‘Substantialität’ auszeichne(te)n (als eine Art sicherheitsstiftende Gewißheitssreferenz). Nach Auffassung dieser letzten authentischen KritikerInnen weisen ‘postmoderne’ Gesellschaftsstruktur und/oder ‘postmoderne’ Menschen eine Reihe von ‘Eigenschaften’ auf: "Nivellierung", ‘Pseudohaftigkeit", "unter allem theoretischen Niveau", "Fehlen persönlicher und inhaltlicher Verbindlichkeit", "Liberalismus", "bloße Form", "keine Qualität", "Substanzlosigkeit", "Beliebigkeit", "Oberflächlichkeit", "Schnoddersprache", "Exzentrik", "reiner Ich-Bezug", "Ichlosigkeit", "Beziehungsunfähigkeit", "theoretisierender Snobismus", "falsche Lustigkeit und flackernde Augen", "keine echte Körperlichkeit und kein Sex auf Loveparades". Dieses Sammelsurium von Attributen ist einem Beitrag von Robert Kurz in der Krisis 20 entnommen, der zumindest von seiner Kernaussage her die Vorstellungen gängiger Postmodernismuskritik repräsentieren dürfte.6

Dringt hier die alte konservative Liberalismus- und Intellektuellenkritik wieder durch, in der sich schon immer die Angst vor dem Unsicheren, der Veränderung, dem Unbekannten und die Sehnsucht nach dem Wahren, Eigentlichen oder Echten in geballter Form manifestierte? Selbstredend gehört der Liberalismus als Ausdruck der Warenvergesellschaftung (wie andere ihrer Ausprägungen auch) gründlich kritisiert. Betrachtet man die Geschichte ideologischer Auseinandersetzungen innerhalb und zwischen bestimmten linken und rechten Parteien oder Gruppierungen, diente der Liberalismusvorwurf allerdings vorrangig der Ausschaltung von mißliebigen KritikerInnen oder Denkströmungen, die die festgefügten, scholastischen Theoriegebäude sowie die Herrschaftsstrukturen in Frage stellten oder sie zu bedrohen schienen. Dieses Motiv dürfte auch diesmal wieder kräftig mitspielen.

Gaston Valdivia

 

1 Vgl. Beck streitet mit Schily, Frankfurter Rundschau, 16.11.98

2 Mit dem Ausdruck ‘Schändung’ wird das Opfer der Gewalteinwirkung zusätzlich verbal angegriffen. Sprachlich steht nicht der/die TäterIn am Pranger, sondern die Person, "über die Schande gekommen ist".

3 Im üblichen Sprachgebrauch geht mit den Begriffen ‘sexuell’ oder ‘Triebtat’ verloren, daß sexuelle Gewalt in der Regel mit einem ganzen Bündel von Macht- und Herrschaftsgelüsten sowie zahlreichen Formen physischer und psychischer Gewalt einhergeht.

4 Bemerkenswert: Der österreichische Innenminister Karl Schlögl äußerte sich am 30.12.98 auf der fünften Interventionsstelle gegen Gewalt in Familien in Linz aufgrund der Tatsache, daß zwei Drittel aller Gewaltverbrechen in der Famile begangen werden, wie folgt: "In keinem anderen Bereich ist die Sicherheit von Menschen so schlecht gewährleistet wie in der Privatsphäre." Ob aus dieser Erkenntnis etwas folgt, dürfte allerdings fraglich sein.

5 Vgl. Dietz Bering: Die Intellektuellen, Stuttgart 1978.

6 Vgl. Robert Kurz: Weinkenner aller Länder, vereinigt euch! , in: Krisis Nr. 20, Bad Honnef 1998.