Zehn Thesen zur "sozialen Sicherheit"

1. Der Terminus "soziale Sicherheit" hat seit den 80er Jahren in der BRD eine komplette Umdeutung erfahren. Bezeichnete er bis zu den 80ern eine gewerkschaftlich und sozialdemokratisch geprägte Forderung nach Rechten für Arbeitende bzw. arme, keine Produktionsmittel besitzende Bevölkerungsteile, so hat sich die Bedeutung geradezu umgekehrt: Soziale Sicherheit ist jetzt die Sicherheit vor den Armen, Arbeitslosen, Kleinkriminellen, AusländerInnen, Flüchtlingen. Sozialpolitik wird zur polizeilichen Aufgabe, zur direkten Innenpolitik, Denunziation zur ersten Bürgerplicht.

2. Das fordistische Vollbeschäftigungsmodell ist in der Krise, seit den 70er Jahren gibt es eine zunehmende "Sockelarbeitslosigkeit". Die Krise der Arbeitsgesellschaft beantwortet Deutschland mit einer reaktionären Reprise der Arbeit, einer rabiaten Simulation einer Arbeitsgesellschaft. Je weniger Lohnarbeit das Kapital benötigt, desto vehementer werden die Leute zur Arbeit gezwungen.

3. Die in Soziologenkreisen propagierte "neue Arbeit" (Jeremy Rifkin, Fritjof Bergmann, Ulrich Beck), die Bürgerarbeit im zweiten oder dritten Arbeitsmarkt etc. ebenso wie der gemeinnützige Arbeitsdienst, der in der Diskussion um eine soziale Grundsicherung genannt wird, haben eine Stützung und Ergänzung des klassischen Arbeitsmodells zum Ziel. Staatliche und nichtstaatliche Initiativen erhalten im Verhältnis zur "freien Marktwirtschaft" stärkeres Gewicht; sie sekundieren letztlich eine national formierte "Standort-Vielfalt".

4. Ehrenamt, freiwilliges soziales Jahr, Zivildienst, Arbeitsdienst, Zwangsverpflichtung etc. stellen Eckpunkte einer Art Zivildienstfaschismus dar, der die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der fetten Jahre der BRD ablöst. Diese völkische Zivil(dienst)gesellschaft klagt die "Multis" als "vaterlandslose Gesellen" an und fordert deren Besinnung auf den "Standort Deutschland". Der reine Gewinnkalkül ("shareholder value") gilt zunehmend als verpönt: Dienst, Opfer und Barmherzigkeit sind die neuen Werte. Rechtsansprüche an den Staat werden durch Pflichten an der Gemeinschaft ersetzt.

5. Die "neuen Arbeiten", seien sie freiwillig oder unter Zwang durchgesetzt, werden in klassischen Bereichen geleistet: Natur, Volksgesundheit, Altenpflege, Sauberkeit, Sicherheit. Geschlechtliche Arbeitsapartheid wird dabei auf eine Weise etabliert, wie sie auf dem "freien" Arbeitsmarkt dank jahrzehntelanger Kämpfe mittlerweile weitgehend überwunden ist. So wird letztlich über die Restauration reaktionärer Arbeitsteilungen und damit verbundener Frauenbilder die Gleichberechtigung der Frauen im Berufsleben demontiert.

6. Der Überlebensanspruch der Menschen, universelles Menschenrecht in der Epoche bürgerlicher Herrschaft (zumindest auf dem Papier) wird offen als Anachronismus und Leistungsbremse denunziert und letztlich negiert. An seine Stelle tritt das altbekannte "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", begleitet von einer neuen Kultur der Hilfsbereitschaft und des Almosens. Die sozialen Errungenschaften - unter anderem der ArbeiterInnenbewegung - werden durch Gnaden-Gaben ersetzt. Sozialhilfesätze, die sich nicht mehr an der Inflationsrate bzw. am Existenzminimum ausrichten, Leistungen für AsylbewerberInnen, die von vorneherein 20 % unter dem Existenzminimum liegen, belegen dies.

7. Gegen die Abschaffung des "Sozialstaats" durch die völkische Gnaden- und Schicksalsgemeinschaft der nach-89-Ära regt sich kein nennenswerter Widerstand. Von der DVU über die "Volksparteien" und die Gewerkschaften bis hin zu den Grünen und der PDS: Alle bauen sie mit am Standort Deutschland. Der ausbleibende Protest gegen eine Politik, die viel radikaler ist als alles, was in den 80ern als "Sozialabbau" figurierte, hat eine weitere, noch fatalere Implikation: "Der Feind steht außen".

8. Die Nation rückt zusammen unter der gemeinsam halluzinierten Bedrohung durch einen äußeren Feind. Mal sind es technokratische Konzerne oder weltfremde Börsenspekulanten, mal "das Ausland" und eben immer wieder die "anderen", die mal mehr, mal weniger gern gesehenen "Gäste" in diesem unseren Lande. Die retroaktiv imaginierte Idylle der satten BRD wird bedroht durch die Gestalt des gleichzeitig wuselig arbeitenden und trickreich arbeitsscheuen Ausländers, Asylanten, Sozialschmarotzers. Die Bedrohung taucht in Gestalt des Flüchtlings, des Schleppers und Schleusers v.a. an der deutschen Ostgrenze auf, wo traditionell gegen die Bedrohung "unserer Kultur" gekämpft wird - angefangen beim Deutschritterorden bis hin zu Hitler, Kinkel und Schily. Auch im Innern bekämpft man ihn, wo er in Gestalt des Dealers, des Sozialhilfebetrügers, des Schwarzarbeiters sein zersetzendes Werk zu verrichten sucht.

9. Ein weiteres Phantasma ist die Bedrohung der "Keimzelle des Staates", der Kleinfamilie, durch die Fremden. Ihnen werden zügellose Fruchtbarkeit, intakte großfamiliäre Strukturen, mafiöse Beziehungsgeflechte wahnhaft angedichtet; dieses Horrorbild läßt die deutsche Ein-Kind-Familie umso schwächer erscheinen. Durch feministische Bestrebungen erfährt diese Unterminierung der "Keimzelle der Kraft des eigenen Volkes" Unterstützung. Forderungen nach dem Recht auf Abtreibung, der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, der Einführung der schwullesbischen Ehe werden als Zersetzung von innen wahrgenommen.

10. Das Soziale wird militarisiert. Arbeitseinsätze werden generalstabsmäßíg geplant, Sozialhilfeempfänger erhalten Einberufungsbescheide, der Arbeitsdienst wird straff organisiert, die Faulen an die Kandare genommen. Früher hieß es, der Kommiß habe noch keinem geschadet, heute heißt es, ein bißchen sinnvolle Bürgerarbeit schadet niemandem, sondern trägt zur Charakterbildung bei. Auf diese Weise will man auch dem Problem "Jugend und Gewalt" zu Leibe rücken: Die durch amerikanische Kulturideale und antiautoritäre Erziehung verweichlichte deutsche Jugend soll durch Arbeit erzogen werden.

11. Das Soziale wird militarisiert, das Militärische vermeintlich zivilisiert. Obwohl jetzt wieder deutsche Soldaten in die Welt hinausströmen, um deutsche Interessen zu verteidigen bzw. Flüchtlinge überall da zu bekämpfen, wo sie auftreten, gibt man sich den Anschein, als ginge es darum, Frieden zu stiften und die Menschheit zu retten. Die Bundeswehr versucht sich das Image einer Zivildienstorganisation zu geben, die durch ihre humanitäre Hilfe und ihre Einsätze gegen Naturkatastrophen im Rampenlicht steht. Der Zivildienst, in den 80ern noch verpönt als Heimstatt für Drückeberger, hat sich zum Vorbild für die Bundeswehr und die gesamte deutsche Gesellschaft entwickelt.