Innere Katastrophe und ökologische Sicherheit

Natur: Gleichgewicht oder Katastrophe? Zweifellos hat das Thema Ökologie für das traditionslinke Spektrum nicht mehr dieselbe Bedeutung, wie noch vor zehn, fünzehn Jahren. Eher dient das naturschützerische Engagement heute als Seelenbalsam angesichts allzuvieler geplatzter linker Illusionen. Beim Anti-Castor-Einsatz darf das autonome Herz angesichts der breiten Beteiligung der ‘betroffenen’ Bevölkerung noch einmal höher schlagen. Und der grünen Basis präsentiert sich ein zumindest rhetorisch kämpferischer Umweltminister als Trostpflaster für die zurückgestutzte Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und den panzerfahrenden Verantwortungspazifismus eines Joseph Fischer. Dabei sollte jedoch auch hier nicht der innovative Effekt des alternativen Öko-Diskurses auf die gesamtgesellschaftliche Ideologiebildung unterschätzt werden. Um diese soll es im weiteren gehen.

Natur als Gewalt oder Idyll Es gibt im Ökologiediskurs und in der veröffentlichten Meinung im wesentlichen zwei Sichtweisen von Natur. Sie gilt einerseits als Beispiel perfekter Organisation, harmonischen Ineinandergreifens verschiedenster Arten und Phänomene. Beschworen wird eine Natur, die aus sich selbst heraus die wunderbarsten Dinge hervorbringt. Ökologie ist die Lehre vom Kreislauf der Natur, dem Lebensraum für Pflanzen, Tiere und Menschen. Die zweite Sichtweise ist die von der grausamen, unberechenbaren Natur: leben und sterben lassen, der Überlebenskampf der Arten etc. wird als ewige Naturnotwendigkeit auch menschlicher Existenz beschrieben. Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Erdbeben etc. werden entweder als schicksalshafte Ereignisse dargestellt, die den Menschen als Spielball der Natur vorführen, oder – zugespitzt – als Racheakte der Erde an den sie usurpierenden Bewohnern. Zeichnet man die Entwicklung von der Ursuppe bis zum homo sapiens nach, scheint diese Evolution eine schier unbegreifliche Geschichte der Ausdifferenzierung, ein extrem unwahrscheinlicher, über Jahrmillionen zielstrebig verfolgter Weg der Dinge zu sein. Nur von einem solchen evolutionsteleologischen Standpunkt aus kann die Eruption des Mt. St. Helens beispielsweise als Katastrophe und die Herausbildung des aufrechten Gangs als meisterhafte Schöpfungsleistung erscheinen. Es gibt jedoch kein Ziel, auf das die Evolution hinstrebt. Es ist wie mit der bürgerlichen Gesellschaft: Erst im Nachhinein können die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 10.000 Jahre als auf den Kapitalismus zustrebende Geschichte betrachtet werden.

Die Metapher vom ökologischen Gleichgewicht Es handelt sich beim ‘ökologischen Gleichgewicht’ in der Tat um eine Metapher, die auf Gewicht, Wiegen, Messen, Vergleichen – letztlich auf eine Symbolik des Kaufens und Verkaufens verweist. Da liegt die Vermutung nahe, den Ursprung der Metapher in der Matrix des bürgerlichen Systems zu suchen. Die Metapher vom ökologischen Gleichgewicht suggeriert die Abwesenheit von Entwicklung, die Abwesenheit von Ungleichgewicht, Veränderungen überhaupt, die nicht den Kreislauf des Immergleichen wiederholen. Das ökologische Gleichgewicht, das von ‘dem Menschen’ gestört wird, ist eine relativ junge Erfindung. Erst dem modernen Menschen gelingt es überhaupt, der Natur so bleibende Veränderungen aufzuprägen, daß der Gedanke, eben dies zu kritisieren, überhaupt aufkommen kann. Der vormoderne Mensch wird entweder als Teil der Natur betrachtet, z. B. in Gestalt von ‘Naturvölkern’ – und das sagt einiges über den Rassismus der politischen Ökologie aus. Oder es wird ihnen unterstellt, sie lebten "im Einklang mit der Natur", da sie deren Gesetze akzeptierten und sich ihnen fügten.

Natur als freies Spiel der Kräfte Auch Natur als gewalttätige Macht zu betrachten, verweist auf eine Grundkategorie der bürgerlichen Gesellschaft, die freie Konkurrenz. So hat der US-amerikanische Journalist Jeremy Rifkin in seinem Buch Entropie – ein neues Weltbild (Hamburg 1982) die These formuliert, Darwins Evolutionstheorie sei durch die Übertragung frühkapitalistischer Phänomene auf die Natur zu erklären. Der Überlebenskampf, der Krieg aller gegen alle, das Überleben des Stärkeren seien Prinzipien, die Darwin von der Börse und dem Geschäftsleben her gekannt habe. Anstatt diese gute Idee als Mittel zur Analyse der Entstehung und Wirkung von Darwins Theorie zu verwenden, stößt sich Rifkin radikal von Darwin ab, um eine umfassende Harmonielehre der Natur zu entwerfen, die ihm wiederum als Folie für die Zeichnung seines überaus reaktionären, normativen und in mystische Gefilde abdriftenden Antidarwinismus dient. Jeremy Rifkin wurde in Deutschland v.a. durch sein Buch Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft (Frankfurt/M. 1995) in linksalternativen Kreisen bekannt.

Gesellschaftliche Naturkatastrophe Die Dichotomie Natur/Gesellschaft entsteht auf Grundlage des Warenfetischismus: Die persönlichen Beziehungen der Menschen treten als Dinge (Waren) in Erscheinung und deren sachlichen Eigenschaften als gesellschaftliche. Ist die Ware verallgemeinert, können die Tauschabstraktionen nicht mehr als solche nachvollzogen werden, sie werden zur ‘zweiten Natur’. Die bürgerliche Gesellschaft befreit von der ersten Natur (die sie selbst erst denkbar gemacht hat), die zweite Natur erweist sich jedoch als genauso unberechenbar, als "Naturkatastrophe". Damit verweist Marx mit der ihm eigenen Ironie darauf, daß es Naturkatastrophen nur in der Gesellschaft gibt und eben nicht in der Natur (Marx verwendet hier, wenn man so will, eine Denkfigur, die als Pastiche oder Kopie ohne Original bezeichnet werden könnte). Naturalisierte gesellschaftliche Verhältnisse erzeugen sowohl ‘Natur’ als Außen, so wie wir sie kennen, als auch die entsprechenden tools, diese dann zu beherrschen – namentlich Naturwissenschaft und Technik. Die mit Hilfe der Wissenschaft betriebene Bändigung der Natur, die als außerhalb existierende erst produziert werden mußte, wird erkauft durch das Entstehen eines blinden gesellschaftlichen Zusammenhangs, der weltumspannend Verheerungen anrichtet, die vorher unbekannt waren.

Natur-Kultur-Gegensatz Der Gegenstandsbezug der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft stellte einen radikalen Wandel gegenüber historisch älteren Gesellschaftsstrukturen dar. Subjekt und Objekt, Mensch und Umwelt, Kultur und Natur als Gegensätze, als einander entgegenstehende Sphären anzusehen, liegt in der kapitalistischen Denk- und Tauschabstraktion begründet. Der Mensch wird als Bearbeiter eines passiven Materials, der Rohstoffe und Ausgangsmaterialien, angesehen (Ackerboden, Holz, Erz). Die Menschen in vorbürgerlichen Verhältnissen kannten keinen Kampf gegen die Natur durch Gesellschaft oder Kultur, sondern alles war Schicksal oder der Wille Gottes. Sie waren "in die vierdimensionale Raumzeit gebadet" (Vilém Flusser) bzw. von einem "Lebensbrei" (Ernst Lohoff) umgeben. Das Schicksal und die Macht von (Natur-)Gottheiten bedingten eine Haltung, die aus unserer heutigen Perspektive nur als fatalistisch beschrieben werden kann.

Aufstiegsphase Die der Aufstiegsphase der bürgerlichen Gesellschaft adäquate Naturbeziehung ist die der Beherrschung, der Eroberung, der Unterordnung unter das Kapital. In diesem Zusammenhang steht eine ingenieursmäßige Sicht der Natur. Dieser Impetus beschreibt den Weg von einer Sicht der Natur als gewalttätig, unberechenbar, grausam etc. hin zur Machbarkeitsideologie und den Allmachtsphantasien kapitalistischer Wissenschaftsdispositive. Ironischerweise ist die Vorstellung der Ökologiebewegung, der Mensch könne seine Lebensgrundlagen auf der Erde zerstören, eigentlich die umgestülpte Variante der Allmachtsphantasie der Aufklärung.

Romantische Kapitalismuskritik Schon seit es den Fortschrittsoptimismus des aufstrebenden Bürgertums gibt, gibt es auch dessen Gegenteil, die romantische Kapitalismuskritk. Diese geht von einer imaginären ursprünglichen gesellschaftlichen Harmonie aus. Der Natur werden Prinzipien angedichtet, die denen des Kapitalismus widersprechen: Natur als schöpferische, das Leben hervorbringende, rücksichtsvolle Obwalterin, Natur als Hort der eigentlichen sinnlichen Vernunft (Gaia). Die reaktionäre Kritik an der Moderne, die immer schon den Kulturalismus und Nationalismus der Wald- und Boden-Mystik mitschleppt, hat hier ihren Ursprung. Sie stellt eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft dar, die – blind für deren Funktionsprinzipien – eine Reaktion auf Oberflächenerscheinungen bleibt. Wie beim Faschismus und insbesondere beim Nationalsozialismus dreht sich alles um Phänomene und vermeintliche Akteure in der Zirkulationssphäre: die Juden, die das Geld, das ‘raffende Kapital’, das Abstrakte inkarnieren und die Antithese zur Arbeit, dem ‘schaffenden Kapital’, dem Konkreten, Sinnlichen darstellen.

Harmonie und Disharmonie Den Topos "ökologisches Gleichgewicht" gibt es erst, seit es auch eine existentialistische Wahrnehmung und Kritik bürgerlicher Vergesellschaftung gibt. Aus der in der Natur vermeintlich vorherrschenden Harmonie werden Verhaltensregeln abgeleitet. Eine Tendenz zum moralischen Rigorismus, der abstrakte Gesellschaftlichkeit durch spirituelle Prinzipien ersetzen will, strebt ein Leben "im Einklang mit der Natur" an. Konsequent in dieser Sichtweise ist der Veganismus, der den Menschen eine Lebensweise vorschreiben will, die einem Teil der Säugetiere abgeschaut ist. Deren Passivität, Ohnmacht, ihr "harmonisches Einfügen in Ökosphären" soll kopiert werden. Wenn das nicht geht, bleibt nur die Selbstvernichtung. An dieser Stelle wäre auch die Ideologie der Langsamkeit zu nennen, die eine bloße Umkehr der kapitalistischen Zeitökonomie darstellt. Das Plädoyer für Zeppeline, ‘natürliche Reisegeschwindigkeiten’, ‘natürliche Flußläufe’, ‘Renaturierung’ etc. sitzt schon in der Falle der reaktionären Kulturkritik, die die diffuse Ablehnung der schwindelerregenden, unberechenbaren Vergesellschaftung beinhaltet. Der Einwand, es handle sich doch bei Themen wie Ozonloch, Treibhauseffekt etc. um objektiv die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährdende Phänomene, also objektive Kriterien für Naturkatastrophen, ist unberechtigt. Kommt es doch bei allen diesen Fragen wesentlich darauf an, was unter ‘Leben’, ‘Lebensbedingungen’, ‘Menschheit’ etc. verstanden wird.

Was ist eine Naturkatastrophe? – Dekonstruktion eines Begriffs Die gängige Definition einer ökologischen Katastrophe, die hier kritisiert werden soll, könnte ungefähr so lauten: Eine ökologische Katastrophe ist eine nachhaltige, großflächige, irreversible Schädigung eines bedeutenden Ökosystems. Diese Defininition enthält keine Bestimmungen über die Ursachen des Phänomens, es ist allein durch seine Auswirkungen definiert. Es soll im Folgenden darum gehen zu zeigen, daß es keine Bestimmungen für eine ökologische Katastrophe gibt, die jenseits der gesellschaftlichen Konstruktion von Natur liegen. Drei Beispiele sollen die These illustrieren, daß ökologische Katastrophen soziale Katastrophen sind, in dem Sinne, daß die scheinbar objektiven, vor- oder ungesellschaftlichen Kriterien für deren Bestimmung dies keineswegs sind, sondern daß sie gesellschaftliche Naturverhältnisse ausdrücken.

Krümmel Das schleswig-holsteinische AKW Krümmel ist seit Jahren in der Diskussion wegen der erhöhten Zahl an Leukämiefällen bei Kindern in der näheren Umgebung. Es gab mehrere Gutachten, die keine Ursachen für die erhöhten Leukämieerkrankungen finden konnten. Ein Verschulden durch das AKW konnte nicht nachgewiesen werden - bei Niedrigstrahlung ist dieser Nachweis auch nahezu unmöglich. Das Krankheitsbild (Leukämie bei Kindern ist eher keine typische Auswirkung langfristig wirksam werdender Niedrigstrahlung) und die Tatsache, daß ähnliche Häufungen der Leukämieerkrankungen auch an anderen Orten der BRD auftreten, die teilweise weit erfernt von AKWs gelegen sind, machen es den BetreiberInnen des AKW Krümmel leicht zu behaupten, die Leukämiefälle in der Elbmarsch hätten nichts mit ihrer Anlage zu tun. Außer Frage steht jedenfalls, daß die Leukämiefälle für die BewohnerInnen der Elbmarsch eine Katastrophe sind. Neben den direkt betroffenen Personen ist der ganze Landstrich in Panik und Verzweiflung. Die Bewohner Innen – eine Mischung aus alter Landbevölkerung und grünen Lehrerehepaaren, die seit den 70ern aufs Land gezogen sind, um den Unbillen der Städte zu entfliehen, und die hier eine ökologische, naturverbundene, gesunde Lebensweise entfalten zu können glaubten, sehen sich in ihren Hoffnungen enttäuscht. Die Wut auf ‘die Verantwortlichen’, die kursierenden Verschwörungstheorien, welche Atommafia, Politiker, Industrie und Wissenschaft in einem Bündnis gegen ihr Leben sehen, all das deutet auf eine tiefe Frustration bei den ‘Betroffenen’ hin: Das unsichtbare Atom verletzt mit der ihm eigenen Perfidie (Unsichtbarkeit, ewige Wirkung, Tod trotz oberflächlicher Normalität etc.) die Schimäre der sorgenfreien, gesunden Landidylle. Das Beispiel zeigt, daß die Katastrophe darin liegt, daß das soziale Funktionieren dieses Landstrichs, seine kollektive Lebenslüge, sein Phantasma zerstört worden ist.

Waldsterben Le waldsterben, das in den 80ern noch als ökologische Katastrophe par excellence angesehen wurde (die Zusammenhänge der Waldverliebtheit der Deutschen mit finsterem Nationalbewußtsein kann man auch irgendwo nachlesen, by the way), erlebt ca. zehn Jahre später eine veränderte Wahrnehmung. So schreibt die Süddeutsche Zeitung am 5. Januar 1998 auf S. 32 unter dem Titel Sterbender Wald fasziniert die Touristen folgendes:

Von Umweltgiften geschädigter, vom Borkenkäfer befallener, absterbender Fichtenwald steht am Westhang des Lusen im Nationalpark Bayerischer Wald. Wer genauer hinschaut, der kann feststellen, daß sich die ursprüngliche und daher anfällige Monokultur behutsam in Richtung Bergmischwald erneuert. Das läßt die Waldexperten hoffen. Für Touristen ist die `Katastrophe´ zur Attraktion geworden.

Von der Katastrophe zur Attraktion, die überhaupt nicht mehr als Bedrohung empfunden wird, ja nicht einmal mehr als bedrückend, ist es nur ein kleiner Schritt. Und der ist nicht dadurch verursacht, daß das Waldsterben aufgehört hätte. Die Stimmen, die das Waldsterben als Folge der Monokultur und als Chance zur Relativierung derselben gesehen haben, gab es auch schon in den 80ern. Nein, geändert hat sich die Matrix der katastrophalen Lieblingsbedrohungen der Deutschen. Dazu später mehr.

Tschernobyl Auch der Reaktorunfall in Tschernobyl gilt als ausgesprochene ökologische Katastrophe. Über die Auswirkungen des Unfalls schreiben Yrjö Haila und Lassi Heininen in dem Artikel Ecology: A New Discipline for Disciplining? folgendes:

[...] the event definitely was not a `catastrophy´ if the effect on natural ecological systems is taken as the criterion. The catastrophic dimensions stem from human suffering caused by the accident. [...] Reasonable estimates of health hazards, expressed as an estimated number of deaths by cancer caused by the accident, vary from several thousands to severel tens of thousands. The estimates are uncertain because the cases are distributed over a long period of time and because people also get cancer without being exposed to additional doses of radiation. Consequently, even more important than direct health hazards is the stress of uncertainty among people who were exposed to radiation. For instance, among 5000 Estonians, mainly conscripts, sent to Chernobyl for the cleanup after the accident, the death rate caused by serious illnesses was lower during the following four years than in a control group among the rest of the Estonian population. While the physical fitness of conscripts is above average, the suicide rate was slightly higher, and a clearly higher proportion suffered from psychosocial problems.

Dieses Zitat illustriert präzise die Tatsache, daß die von Tschernobyl in Mitleidenschaft gezogene Ökologie nicht ‘da draußen’, sondern im menschlichen Körper und dem seiner Gesellschaft situiert ist. Das Beispiel zeigt, daß die umfassendere Dimension der Katastrophe in den Auswirkungen auf die Subjektivität z.B. der dort Arbeitsverpflichteten liegt. Es geht in diesem Beispiel nicht darum, die körperlichen Auswirkungen zu beschönigen oder zu relativieren, sondern darum aufzuzeigen, in welchen Szenarien Bedrohungen von ‘innerer Sicherheit’ der Individuen stattfinden können.

Tschernobyl in Germany Noch deutlicher wird die exemplarische Bedeutung Tschernobyls vielleicht, wenn die Auswirkungen auf das Lebensgefühl der Deutschen nach dem Unfall beleuchtet werden. Heute kann man zusammenfassend sagen, daß die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl (wieder mit den notwendigen Einschränkungen) quantité négligeable gewesen sind im Vergleich zur Bequerel-Panik, die die Massen ergriffen hatte. Unzählige besorgte Mütter und Väter diskutierten Radioaktivitätswerte in polnischen Pilzen und deutschem Salat. Die Sorge um die eigene Brut löste endgültig umfassendere gesellschaftliche Perspektiven ab. Die Ohnmacht gegenüber der unsichtbaren Strahlung, die überall drin sein konnte und zusätzlich die Unerreichbarkeit der damaligen Sowjetunion, die Ohnmacht gegenüber den ungehindert über die Grenze eindringenden Bedrohungen war wesentliches Element dessen, was die ‘Katastrophe Tschernobyl’ in Deutschland ausmachte. Genau an dieser Stelle kommen drei Dinge zusammen: Bedrohung durch Ökokatastrophen, innere Sicherheit des Subjekts, Militarisierung des ökoregulatorischen Diskurses und Sicherheit des Staates gegen atomare und menschliche Eindringlinge. Viele der Bilder, die zehn Jahre später das Szenario der "Asylantenflut" bebildern sollten, finden sich bereits hier.

Gesellschaftliche Ordnung Jede Formulierung eines Problems als ökologisches impliziert eine bestimmte gesellschaftliche Folie, die aber nicht thematisiert wird, da es ja definitionsgemäß um globale Naturprobleme geht, die keine gesellschaftlichen Bestimmungen enthalten. Dadurch wird die bestehende soziale Ordnung ausgeblendet, affirmiert und ihre Bedeutung für die Bestimmung des Problems geleugnet. Das bedeutet nichts anderes als das Akzeptieren der Ordnungsprinzipien dieser Gesellschaft. Die herrschende gesellschaftliche Ordnung wird dadurch naturalisiert, daß ökologische Phänomene als für alle Zukunft gültig apostrophiert werden, unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Fokussierung auf ökologische Probleme als solche bringt Annahmen über das gesellschaftliche Sein mit sich: Naturalisierung, Neo-Malthusianismus und Moralisierung, Suche nach dem Leben im Einklang mit den Gesetzen der Natur, der spirituellen Einheit, der nicht-invasiven Lebensweise. Alle diese Tendenzen implizieren einen Konservatismus der gesellschaftlichen Ordnung, der auf autoritäre Prinzipien zuläuft und in denen individuelle Bedürfnisse keine Rolle mehr spielen. Dazu noch einmal Haila und Heininen:

[...] we suggest that the ideas about social order have a constitutive role in rephrasing ecological problems to make them appear solvable. Order is the opposite of chaos; it is required in order to govern and control. Thus, is there any alternative to assuming that order, in both nature and in society, is a prerequisite for coping with the relationship between humanity and nature? Our thesis is that a predefined social order is inherent in most definitions of ecological problems and in suggestions about how to manage those problems. [...] In a word, ecology may become subordinate to the principle of `social order first´.

Hier schließt sich der Kreis der romantischen, eskapistischen Ökologie-ideologie, insofern sie letztendlich sozialnormativ wird, wie beim Mülltrennungs-Gesinnungsterror, der bekanntlich paranoide Züge hat. Der Ausgangspunkt: ‘wir wollen besseres Essen’ endet bei: ‘wir wollen eine soziale Kontrolle dessen, was jede einzelne ißt’. In diesem Zusammenhang tritt der Begriff der Umwelt-Sicherheit (environmental security) auf, der eine Vermischung ökologischer und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen darstellt und die Basis für den Diskurs der inneren Sicherheit im Bereich Ökologie liefert.

Relativität der Bedrohungen Sicherheit bedeutet Abwesenheit von Bedrohung; es stellt sich die Frage: wer oder was wird von wem oder was bedroht? Das Beispiel des letzten Golfkriegs zeigt, wie schnell ökologische Problemstellungen in den Hintergrund treten angesichts dringenderer Sicherheitsbedrohungen. Sind primäre Sicherheitsbedürfnisse tangiert, wie zum Beispiel die ‘Freiheit der westlichen Welt’ in Kuwait oder in Serbien, dann verstummen die Stimmen, die vor immensen Schädigungen durch Kriege warnen. Beim Golfkrieg gab es keinen nennenswerten Protest gegen die Umweltzerstörung, da die Bedrohung durch Saddam als stärker empfunden wurde: Ein anderes Sicherheitsbedürfnis überwog. Das zeigt, wie relativ die Wahrnehmung von ökologischen Katastrophen ist.

‘Auslandseinsätze’ für die ‘Umwelt’ Bei der Überschwemmung der Oder 1997 wurde das Auftreten der Bundeswehr als Öko-Armee erstmals einem breiteren Publikum vorgestellt. Es bestand Einigkeit darüber, daß die Flutkatastrophe eigentlich hätte vermieden werden können, wenn die Polen und Tschechen nicht so mit ihrer Umwelt umspringen würden und wenn sie die Warnungen aus dem Westen nicht verschlafen hätten – auch die Ökologiebewegung schloß sich dieser Schelte für die ‘Mißwirtschaft’ in den Ländern des ehemaligen Ostblocks an. Darüber hinaus begrüßte sie das konsequente Eingreifen staatlicher und militärischer Institutionen – Sicherheit vor Katastrophen setzt eben staatliche Macht voraus. Mit dem Konzept der Umwelt-Sicherheit wird eine militärische Problemlösungsweise auf ökologische Probleme übertragen. Einerseits gewinnt eine Art militärischer Logik zunehmend Einfluß auf die Behandlung ökologischer Fragen, andererseits nimmt sich das Militär der ökologischen Sicherheit an. Vertreter der Verteidigungsministerien und des Militärs formulierten bereits im März 1992 auf dem KSZE-Folgetreffen in Helsinki mögliche neuen Aufgaben für das Militär im Zusammenhang mit Umweltkatastrophen. Der UN- oder Bundestagsauftrag, irgendwo Wale oder Robbenbabies zu retten, wird nicht lange auf sich warten lassen. Auch das ‘Menschheitsproblem’ Regenwaldabholzung hat Prinzipien wie nationale Selbstbestimmung, Nichteinmischung, Unabhängigkeit der Staaten der ‘Dritten Welt’ verdrängt und einer neuen Moral des weltweiten Eingreifens zugunsten ‘der Natur’ (bzw. letztlich zugunsten ‘unserer Kinder’) Platz gemacht. Daß ‘Sauerstoff zum Atmen für unsere Kinder’ Ausdruck einer Öko-Apartheids-Moral ist, dürfte einleuchten.

Die Flutkatastrophe an der Oder ist Symbol für das Zusammenlaufen zweier Diskurse: der ökologischen Katastrophe und der inneren Sicherheit. Die ganze Metaphorik, Symbolik, die ‘berechtigten Ängste der Bevölkerung’ in bezug auf die ‘Asylantenflut’ sind im Zusammenhang mit Tschernobyl vorexerziert worden. Die Elbeflut aus dem Osten und die gemeinsame Abwehr derselben durch Armee, Regierung, Freiwillige sind wie eine Versinnbildlichung dessen, was an Europas Außengrenzen und insbesondere an Deutschlands Ostgrenze das alltägliche Szenario ist: Bundesgrenzschutzeinsatz und Zäune gegen illegale Einwanderer.

Es geht um die innere Sicherheit genau derjenigen, die Angst um ihre Kinder haben, wenn irgendwo ein Atomtransport stattfindet, eine Klinik für Sexualstraftäter gebaut oder ein Druckplatz für Junkies eingerichtet werden soll. Die gleichen, die als Kriminelle die innere Sicherheit und durch ihr Anderssein die innere Einheit bedrohen, sind auch diejenigen, die ihren Müll nicht trennen. Daß an den Förderbändern des grünen Punkts mehrheitlich ausländische Frauen in Niedriglohngruppen den säuberlich getrennten Müll der weißen Ökoherren sortieren, kann als Metapher für die gesamte Ökologiebewegung gelten insofern sie ein Ausdruck des Ekels des Bürgers vor der eigenen Reproduktion war und ist.

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Literatur

Haila, Yrjö und Heininen Lassi: Ecology: A New Discipline for Disciplining? In: Social Text Nr. 37, Duke University Press 1995, S. 153 bis 171

Andreas Schroeder: Zeit, Natur und Maschine. Zur Kritik des Gebrauchswertfetischismus, in: karoshi drei, Hamburg 1998

Die Illustrationen wurden aus dem Buch Zur Kritik der Politischen Ökologie der Subrealisten Bewegung, Hamburg 1980 re-rekuperiert...