der begriff zwangsheterosexualität

„Alltagsforschung ist kein Feld mehr, auf dem Innovation möglich scheint.“ Carola Lipp (1993)

„Das alltägliche Leben zu studieren wäre ein vollkommen lächerliches und zuerst dazu verurteiltes Unternehmen, von seinem Thema nichts zu erfassen, hätte man nicht ausdrücklich vor, dieses alltägliche Leben mit dem Ziel zu studieren, es zu verändern.“ Guy Debord (1961)

I. Die Revolte gegen das spezialisierte Wissen

Wenn es sich trifft, daß du über irgendein Phänomen oder über einen Begriff nachdenkst, wirst du rasch mit einer Masse an gedruckten Diskursen konfrontiert, die eher einer Mülldeponie als einer Werkzeugkiste gleicht.

Dann hast du gerade drei sozial sanktionierte Möglichkeiten. Das Einfachste ist es meist, den Mund zu halten. Wenn du keine Politikerin, Professorin oder Journalistin (bzw. Sängerin, Schauspielerin oder Sportlerin) bist, wird dich ohnehin niemand öffentlich nach deiner Meinung fragen. Die zweite ist, drauflos zu plappern. Die dritte ist schlicht offensichtlich: Du verwandelst dich selbst in eine Art Expertin (oder tust so als ob), in eine offizielle, offiziöse oder ,alternative’, peu importe, und trittst in den ,interdisziplinären’ Diskurs ein. Dann bist du in der Falle.

Die Unmöglichkeit, durch die Addition der spezialisierten Diskurse zu einem emanzipativen Gebrauch der Vernunft zu gelangen, rührt nicht bloß aus der Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Gegenstandsentwürfe der verschiedenen Disziplinen, aus der Verschiedenheit der Denkstile der einzelnen Denkkollektive1 her; wesentlicher sind die Trennungen, die der Wissenschaftsbetrieb zwischen den einzelnen Problemen errichtet, indem er die sozial dominierenden Trennungen2 akzeptiert.

Die Alternative zur falschen Vereinigung der getrennten Repräsentationen kann daher nur ein antidisziplinärer Gebrauch der Vernunft sein, wie ihn die neuen Enzyklopädisten konzipiert und praktiziert haben.

„Die Revolte gegen die Trennung vom wissenschaftlichen Wissen ist die soziale, außerwissenschaftliche Wahrheit, die über diese Wissenschaft historisch urteilt, das Bedürfnis nach Bewußtheit, das alles umfaßt und das die präzisen, von den existierenden Mächten enteigneten Kenntnisse sich zurückholen muß, so wie die Konstruktion eines freien Lebens die Kontrolle aller Techniken ergreifen und sie ihren Anforderungen unterwerfen muß. Denn was auch die Frage ist, die man angeht, und die Seite , von der aus man sie angeht, kaum sind die äußeren Kuriositäten überschritten, vom Umkreis an, muß man an der Konvergenz der Radien die Unwissenheit und die Enteignung als Zentrum des Zirkels erkennen: Das Negativ der spektakulären Kultur enthält das Verlangen nach einer konkreten Erkenntnis, die endlich, durch die Wiedereroberung aller ihrer möglichen praktischen Mittel, die Übereinstimmung zwischen den subjektiven Anforderungen und denen der äußeren Welt ermöglicht.”3

Nicht selten wird die Revolte gegen das getrennte Wissen bei Intellektuellen, die ihre (akademische) Identität verteidigen, auf massive Widerstände stoßen.

Insofern wir mehr als die neuen Enzyklopädisten von den Institutionen des getrennten Wissens geprägt sind, verlangt das antidisziplinäre Denken, damit es tatsächlich ein Handeln ist, wohl eine Art aktive Dekonditionierung. Vielleicht ist dies ein Text des Übergangs.

II. Feministische Theoriebildung und der Begriff Zwangsheterosexualität (Z)

Das feministische und das situationistische Projekt, obwohl einander ignorierend, haben gemein, vom Elend des Alltagslebens auszugehen und auf eine grundlegende Veränderung des Alltagslebens zu zielen. Es ist dies, was sie zu modernen4 revolutionären Bewegungen gemacht hat, im Gegensatz zu allen Vorstellungen und Versuchen, die auf einen bloßen Austausch der Machteliten hinausliefen.

Diese Übereinstimmung ist keine zufällige. Was Debord für die „älteste gesellschaftliche Spezialisierung” hielt, „die Spezialisierung der Gewalt”5, setzt bereits die geschlechtliche Arbeitsteilung voraus. Diese doppelte Wurzel des Spektakels erfordert die Einheit der gedoppelten Bewegung des Bruchs. Den hierarchischen Charakter der geschlechtlichen Arbeitsteilung auflösen zu wollen, ohne die Kritik der Politik, die Abschaffung des Staates zu betreiben (oder vice versa), ist so lächerlich, als wollte ‚man’ den Staat abschaffen und die Produktionsweise Kapitalismus beibehalten.

Es ist nicht zu verkennen, daß sich der akademische Feminismus (AF) heute weit von dem revolutionären Potential des radikalen Feminismus entfernt hat. Das kann nicht anders sein, da er Teil des getrennten Wissens geworden ist: Jede einzelne Trennung kann nur konsequent kritisiert werden, wenn die reale Einheit der Trennungen erkannt wird.

Der AF ist weitgehend zu einem Teil des schicken Akademismus geworden, bei dem es (im Gegensatz zur ewigkeitsseligen Gelehrsamkeit älterer Provenienz) vor allem darum geht, die jeweils ‚angesagten’ Stars6 zu kommentieren oder wenigstens ihre Lektüre zu fingieren. Und wie bei jedem Spektakel sind passive Zuschauerinnen die Mehrheit der Teilnehmenden. Sie haben so Anteil am studentischen intellektuellen Elend.7

Das Innovationspotential, das der AF im Rahmen des getrennten Wissens hatte, ist erschöpft, da die Bewegung, von der er sich getrennt hat, schon zu lange keine Gefahr mehr darstellt. Er wiederholt so das Schicksal der Sozialgeschichte (im Verhältnis zur Arbeiterbewegung).

Was nun die konkrete Ausarbeitung einer antidisziplinären ‚Theorie’ angeht, so kann sie, wenn sie sich nicht auf bloße Ideologiekritik beschränkt, jederzeit einen Diskurs auf der Deponie auflesen und ausprobieren, inwieweit er sie weiter bringt, indem er mit der Kritik der gesellschaftlichen Totalität verbunden wird. Dadurch, daß sie ihn so verwandelt oder gegebenenfalls auch fallen läßt, ergibt sie sich nicht der Bastelei (bricolage), der interessierten Konfusion in der Form des unkritischen Eklektizismus. Eben in diesem Sinne schien mir ein Arbeiten mit dem Begriff Zwangsheterosexualität sinnvoll.

Wenn ‚man’ die theoretische Tragweite eines Konzepts überprüfen will, muß ‚man’ sich fragen, was es zu sehen gibt und was es verdeckt. Mein Gebrauch des Begriffs Z lehnte sich dabei zunächst an den von Adrienne Rich an. In ihrem Aufsatz „Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz”8 kritisierte sie Z als dominierende politische Institution und beschrieb eine Reihe ihrer Effekte. Einer dieser ‚Effekte’ ist es, wenn Heterosexuelle ihre ‚eigene’ Heterosexualität für ,natürlich’ ( im doppelten Sinne von ‚naturgegeben’ und unproblematisch) halten, während Homosexualitäten ihnen als Laster, Verbrechen, Krankheit oder ‚Problem’ gelten, die ‚man’ bestrafen, ,heilen’ oder doch zumindest aufwendig ,erklären’ muß.

Der erwähnte Aufsatz wird heute nur noch wenig diskutiert, was nicht nur an der (wenigstens in Deutschland) nahezu allgemeinen Ignoranz gegenüber Z liegt, sondern auch daran, wie er an den Kontext seiner Entstehung gebunden bleibt. Ohne die Rekonstruktion dieses historischen Kontextes, des expliziten oder impliziten polemischen Gehalts des Aufsatzes, bleibt der Begriff Z undeutlich.

Dem Erscheinen von „Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz” (1980) waren heftige Auseinandersetzungen zwischen Lesben und Heteras in der Frauenbewegung vorausgegangen. Zugleich fällt er in eine Zeit, in der der Radikale Feminismus vom cultural feminism abgelöst wurde.9 Nach der Abwendung von der Neuen Linken wurde der Zusammenhang von Kapitalismus und Sexismus zeitweilig wenig thematisiert, die Erkundung und Bejahung der lesbischen/weiblichen Identität stand im Vordergrund, die Auseinandersetzungen zwischen S/M-Lesben und Antiporno-Aktivistinnen hatten gerade erst begonnen, auch die Diskussion über die Frauenbewegung war noch wenig entwickelt. In einem geänderten Kontext Mitte der 90er stößt das Wort „Zwangsheterosexualität” immer noch auf Abwehr, die Sache aber, die Nicht-Natürlichkeit von Heterosexualität, steht im Zentrum feministischer Theoriebildung, wie ein Blick in die letzten Bücher von Judith Butler, bell hooks u.a. zeigt. Allerdings wird hierzulande in der Regel kaum zur Kenntnis genommen, daß Butlers Thematisierung der Differenz eine radikale Infragestellung der heterosexuellen Matrix und derer, die sie reproduzieren, intendiert. Die Leichtigkeit, mit der das geschehen konnte, zeigt auch, daß die Theoretikerin Butler die (hierzulande eben nicht existierende) Queer-Bewegung braucht, aber nicht umgekehrt.

Bücher wie die von Rich kritisierten, die vorgeben, die Psychologie von Frauen im Allgemeinen darzustellen, und dabei so tun, als gäbe es keine Lesben, sind heute schwer vorstellbar. Wenigstens für den Bereich ‚akademische Theorie in den USA’ waren die Interventionen von Rich und anderen Lesben zweifellos erfolgreich. Daß die Analyse von Z damit nicht überflüssig geworden ist, zeigt die Betrachtung populärer Medien und des Alltags. Homosexuelle Männer unter 40 erfreuen sich zwar, soweit sie nicht Arbeiter oder Arbeitslose sind, einer gewissen modischen Beliebtheit, gleichzeitig aber sind Schwule (aller Altersklassen und sozialer Schichten) zunehmend physischer Gewalt ausgesetzt; die öffentliche Thematisierung von Bisexualität beschränkt sich auf wenige dramatische Aspekte. Lesben kamen bis vor kurzem nicht ‚nur’ in Männerzeitschriften wie ‚Spiegel’ und ‚Focus’ kaum vor.10

Nachdem die Feministinnen in den 60er und 70er Jahren häufig und zu Recht die Verstärkung der Z durch die Praxis der Psychoanalyse als Institution kritisiert haben, zeigen neuere Arbeiten, wie Freuds Texte für eine nichtdiskriminierende Theorie der Perversion und damit auch für ein Umdenken über Z genutzt werden können und müssen.

Eine genauere Diskussion der Psychoanalyse kann im Rahmen dieses Artikels nicht stattfinden. Sie hätte bei deren Grundlagen, d.h. bei den Stärken und Schwächen ihres Verständnisses von Realität, anzusetzen. Nur dank der Psychoanalyse können wir der doppelten Falle des Biologismus und des Soziologismus, die jedes Nachdenken über das Geschlechterverhältnis gefährdet, entgehen. Unter Soziologismus verstehe ich dabei die (meist implizite) Annahme, die Seele sei eine Art passives weißes Blatt, auf das sich die gesellschaftlichen Verhältnisse beliebig einschrieben. Dem setzt die Psychoanalyse das Primat der psychischen Realität entgegen (vgl. vor allem Melanie Klein). Diese Realität besteht aus psychischen Repräsentanzen somatischer Impulse. Die Repräsentanzen lassen sich von den Impulsen weder abtrennen noch auf sie reduzieren. Die radikale Kritik der Psychoanalyse setzt (schon lange vor Adorno) beim Realitätsprinzip an. Sie hätte heute wieder auf Tristan Tzara zurückzugehen. „Die Psychoanalyse ist eine gefährliche Krankheit. Sie schläfert die antireellen Neigungen des Menschen ein und systematisiert die Bourgeoisie.” (1918)

Für die Theorie von Z gilt: Bei aller Wertschätzung der Psychoanalyse bietet diese alleine keine hinreichende Grundlage für die Analyse von Z oder von Sexualität im allgemeinen. Wie Gayle Rubin gezeigt hat,11 können die Ergebnisse der empirischen Sexualwissenschaft in Verbindung mit der Analyse konkreter politischer Auseinandersetzungen (moral panic12) über Sexualität zur Erstellung einer allgemeinen Matrix der für eine Gesellschaft charakteristischen sexuellen Hierarchisierungen genutzt werden, in die auch Z eingeschrieben werden kann. Es zeigt sich aber auch, daß das Geschlecht nicht das alles entscheidende Kriterium ist. Die Unterscheidung Homo-Hetero-Bi verdeckt die Vielfalt real praktizierter Sexualitäten wie die Komplexität der Machtbeziehungen, die ihnen immanent sind. Rubin zeigt, wie eine ganze Reihe sich überlagender hierarchischer Oppositionen die Bewertung von Sexualität strukturieren: SM – vanilla, homosexuell – heterosexuell, verheiratet – außerehelich, monogam – promiskuös, der Fortpflanzung dienend – unfruchtbar, umsonst – für Geld, als Paar – allein oder in Gruppen, in einer Beziehung – eine Gelegenheit ergreifend, innerhalb einer Generation – verschiedene Generationen umfassend, im Park – zu Hause, Pornographie – keine Pornographie, hergestellte Objekte benutzend – nur Körper.13

Der innerhalb der langfristigen heterosexuellen Paarbeziehung Erwachsener zu Hause praktizierte Geschlechtsverkehr bleibt (in den USA wie bei uns) immer noch der Standard, an dem alle Formen der Sexualität gemessen werden. Deren Prestige ist um so geringer, je mehr sie von ihm abweichen. Scheinbar radikale Versuche, zum Beispiel homosexuelle langfristige Paarbeziehungen aufzuwerten, stellen die grundlegende Matrix, die Hierarchie von erlaubten, umstrittenen und absolut tabuisierten Formen der Sexualität nicht in Frage.

Rubin insistiert besonders auf der Bedeutung, die Orte, an denen die Sexualitäten einer Gesellschaft praktiziert werden, für deren Bewertung haben. Die Diskriminierung von Schwulen und SexarbeiterInnen werde z.B. schon an der Vertreibung aus dem heteroidyllischen Stadtkern an den Stadtrand erkennbar. (Die Ordnung der Orte kann ‚natürlich’ auch anders ausfallen, ohne daß sich am Prinzip der Trennung etwas ändert.) Sie liefert so Ansätze zu einer Erweiterung der situationistischen Kritik des Urbanismus.

Der Ort der in unserer Gesellschaft an der Spitze der Hierarchie der Legitimität stehenden sexuellen Praktiken ist, wie bereits angedeutet, das Haus, das Schlafzimmer, das Bett. Die Paarideologie der Z, von der, wie gezeigt, auch Lesben und Schwule nicht frei sind, ist auf die Aufspaltung von privat und öffentlich angewiesen. Der Rückzug in das Private folgt der Logik des Eigenen ((le) propre: Eigentum, Eigentlichkeit, Reinlichkeit). Die Produktion der Eigentlichkeit findet als ,Selbstver-Wirklichung’, als vermeintliche Realisierung eines ursprünglichen Besitzes (,authentisches Selbst’) statt.14 Das Fremde und das Schmutzige bleiben draußen oder werden als Bild konsumiert.

Dem Aufsatz von Rubin kommt eine strategische Bedeutung für die Analyse von Sexualitäten zu, weil er eine systematische Artikulierung der für die Regulierung der Sexualität wesentlichen Trennungen mit den anderen dominierenden Trennungen ermöglicht.

III. Zwangsheterosexualität in der Warengesellschaft

Die Verkürzung des Marxismus auf die Klassenfrage hat wesentlich dazu beigetragen, daß die ‚Ehe’ von Marxismus und Feminismus den bekannten unglücklichen Verlauf nahm (‚Nebenwiderspruch’, spätere additive Theoriebildung, Hausarbeitsdebatte etc.).

Warum der Zusammenhang von Z und Warengesellschaft ganz und gar kein äußerlicher ist, soll im folgenden kurz (und daher auch verkürzt)15 umrissen werden.

Alle bisherigen Gesellschaftsformationen dachten fetischistisch, d.h. der gesellschaftliche Zusammenhang (Relationen) wurde in einer Person oder Sache (heiliger König, Gott, Geld, DER Mensch etc.) repräsentiert, der bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden. Für die Warengesellschaft hat Marx klassisch formuliert:

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt [...]” (MEW23, S. 86).

Auf eben dieselbe Weise ‚erklärte’ sich das Bewußtsein die Beziehungen zwischen Männern und Frauen aus deren ‚Geschlechtscharakteren’. Auch die Konstruktion von ‚Sexualität’ als Eigenschaft von Individuen folgt demselben Muster. Mit anderen Worten: Die Kritik des Essentialismus bleibt ohne Kritik des Fetischismus ohne Fundierung.

Die Konstruktion der Geschlechtscharaktere ist der Sache nach uralt. Spezifisch für die Warengesellschaft, insbesondere in ihrer entwickelten Form, ist der „Kult des ‚abstrakten Menschen’”. Es wird für die Menschen selbstverständlich, sich als die freien und gleichen Willenssubjekte zu verstehen, als die sie in jedem Tauschakt notwendig gesetzt sind. Nichts geht der warenförmigen Subjektivität über ihre Wahlfreiheit. Die Welt erscheint als Angebot. Zur abstrakten Vergesellschaftung gehört aber nicht nur die Wahlfreiheit, sondern notwendig auch die Reduktion der Menschen auf Funktionen, die das Unbehagen auch der Wohlhabenden erregt. Wir beginnen die Funktion der Romantischen Liebe zu verstehen. Sie erscheint als höchste Form der Wahlfreiheit und scheint zugleich (durch die Verschmelzung mit der oder dem Anderen) ein Ausweg aus der unerträglichen Atomisierung (von Modesoziologen euphemistisch ‚Individualisierung’ genannt) zu bieten. In Zeiten politischer Depression, auf einem restlos erkundeten Planeten, erscheint sie als das letzte Abenteuer, die einzige Hoffnung auf Glück, die den Panzer der Langeweile, die aus der spektakulären Organisation von Raum und Zeit resultiert, durchbricht. Solange die Individuen diese Logik nicht durchschauen und, indem sie ihre Gefühle und ihr Handeln anders interpretieren, beginnen, ihr Leben zu verändern, können sie nicht anders, als ihre Beziehungen hartnäckig und hoffnungslos zu überfordern16 und damit in der Regel ihr Scheitern vorzuprogrammieren.

Daß Paarbeziehungen häufig eher Intimhöllen als Oasen gleichen, hängt aber nicht nur mit den Erwartungen der Subjekte, der Dauer der Beziehungen oder mit der Ermüdung und Abstumpfung durch die Arbeit, die die Menschen auch in ihrer ‚Freizeit’ wenig ‚kreativ’ sein läßt, zusammen. Die Sprache sagt es selbst: Das geschäftsmäßige Gebaren wird auch auf die Beziehung zu ,Partnern’ bzw. ,Lebensabschnittspartnern’ übertragen. Der oder die einzig Erwählte verwandelt sich so in eine(n) noch nicht Ausgetauschte(n), die oder der abgestoßen wird, wenn die schwer berechenbaren Einheiten an Zärtlichkeiten, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Bestätigung, Lust etc. nicht erbracht sind oder schlicht das Design schlechter wird und Ersatz in Sicht ist. Da der Wunsch keinen Widerspruch kennt (Freud), wird von der anderen Seite selbstverständlich weiterhin unbedingte Hingabe gewünscht und sogar mehr oder weniger offen eingefordert.

Die warenförmige Verfaßtheit erfaßt, wie eben gezeigt, auch Beziehungen, die sich zunächst in Abgrenzung gegen die Ehe, gegen die juristische Form des Vertrags definiert hatten. Das Modell Ehe selbst bleibt gesellschaftlich dominant.17 Historisch gesehen ist die auf dem Vertragsmodell basierende Paarpolitik aber nur eine von verschiedenen heterosexuellen Politiken.

Früher gab es den Begriff der ehelichen „Pflicht”. Kant definierte die „Geschlechtsgemeinschaft” der Ehe als „[...] die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften.” Da die Ehe zumindest formal auf der Zustimmung beider Partner beruhte, sieht sie Kant als lebenslänglich bindenden Vertrag. Demgegenüber wurde zu Recht eingewandt, daß dieses vorgeblich wechselseitige Recht in der Praxis auf die einseitige Verfügungsgewalt des Mannes hinausläuft. Heute gilt offiziell die Lehre von der sogenannten „gleichberechtigten” Sexualität, d.h. es wird unterstellt, daß die Zustimmung zur „Geschlechtsgemeinschaft” gar nicht ein für allemal gegeben werden kann, sondern immer wieder gegeben werden muß. Gleichzeitig blieb jedoch der eheliche Verkehr bis zu der unlängst beschlossenen Reform generell aus der Definition der Vergewaltigung ausgeschlossen (§177, StGB). Obwohl der Vergewaltigungsparagraph unter dem Titel „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” erscheint, galt nur die vaginale Penetration als Vergewaltigung, so als sei das zu schützende Rechtsgut immer noch die Jungfräulichkeit. Auch der Straftatbestand der sexuellen Nötigung bezog sich nur auf „außereheliche sexuelle Handlungen” (§ 178).

Zum Vertragsmodell gehört, daß die Bürgerinnen und Bürger, da sie nicht Selbstjustiz üben und keinen Krieg auf eigene Faust führen dürfen, die Gerichte anrufen können, wenn sie einen Vertrag verletzt sehen. (Im katholischen Recht konnte die Ehe für nichtig erklärt werden, wenn sie nicht „vollzogen” wurde.) Wäre der Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe als Antragsdelikt eingeführt worden (wie es die Koalition plante), so wäre immer noch die Zustimmung als in der Regel gegeben unterstellt worden.

In den USA verlangen einige Feministinnen, daß jeder Berührung, jeder Stufe der Intensivierung des sexuellen Kontaktes eine explizite verbale Zustimmung vorausgehen soll. Dies wäre zweifellos eine konsequente Übertragung des Vertragsmodells auf die Sexualität. Das Absolutsetzen des Bewahrens der Ich-Identität würde aber jede leidenschaftliche Begegnung ausschließen. Niemand darf den Kopf verlieren.

Das Modell aller Verträge in der Warengesellschaft ist der Tauschakt. Um den Tausch vollziehen zu können, müssen sich die Tauschenden als Freie und Gleiche anerkennen. Als Personen mögen sie einen Körper haben, als tauschende Personen setzen sie sich notwendig als mit freiem Willen begabte, als Willenssubjekte. Der Durchsetzung der Wertvergesellschaftung entspricht die Universalisierung des Vertragsmodells. Jede Form des gesellschaftlichen Verkehrs wird notwendig an ihm gemessen. Auch die Diskussion über Sadomasochismus orientiert sich daher zumeist am Vertragsmodell. In ihrem Buch über Vergewaltigung behauptet Susan Brownmiller, der Sadomasochismus sei „eine reaktionäre Antithese zur Befreiung der Frau”. Dies ist um so bemerkenswerter, als sie den Sadomasochismus ausschließlich als Sadomasochismus zwischen Männern diskutiert. Für sie kann der SM gar nichts anderes als Vergewaltigung sein. Anhänger des SM insistieren dagegen häufig darauf, daß „gegenseitiges Einverständnis” die „absolute Voraussetzung” des SM sei, nehmen also das Vertragsmodell positiv für sich in Anspruch.

Das Vertragsmodell ist so dominant, daß auch Pädosexuelle versuchen, mit ihm ihre Sexualität zu legitimieren; dabei scheint jedoch eine Verkennung der Äußerungen der Kinder zugrunde zu liegen.18

Bezogen auf die Heterosexualität insgesamt können wir sagen, daß auch der sexuelle Zynismus zumindest vorgeben muß, sich am Vertragsmodell zu orientieren, daß die rigide Orientierung am Vertragsmodell vielleicht nicht des Feminismus letzter Schluß ist, daß die Frage, wann und wie die Zustimmung zu sexuellen Handlungen gegeben ist bzw. wird, weiter Streitpunkt politischer Auseinandersetzung sein wird.

Aber die Orientierung am Vertragsmodell ist eben nicht selbstverständlich, ist bereits eine politische Entscheidung. Die Rede vom „Krieg der Geschlechter” hat zwar keinen Platz im System des Rechts, strukturiert aber nach wie vor die Erfahrung vieler Männer und Frauen. Im Modell der Verführung wird das erotische Verhalten offen als strategisches gedacht, als Spiel, in dem zwar keine offene Gewalt, wohl aber List und Tücke erlaubt sind. Die Sprache, in der dieses Spiel beschrieben wird (Eroberung, Belagerung, taktischer Rückzug etc. ) ist gänzlich dem Krieg entlehnt. Die klassische Beschreibung dieses Spiels heißt Les liaisons dangereuses (Choderlos de Laclos, 1782).

Die Betonung des agonalen Moments in der Geschlechterbeziehung kann zur Apologie der Vergewaltigung mißbraucht werden. Es völlig zu verleugnen, heißt das Drama der Existenz, die Realität der Machtbeziehung zu verneinen.

Die Regulierung der Sexualität in der Warengesellschaft erfolgt in sehr vielfältiger Weise. Neben den Verfallsformen des romantischen Denkens spielen dabei insbesondere die sogenannten Wissenschaften vom Menschen und die Medizin eine hervorragende Rolle. Wie diese Diskurse in bestimmten Machtdispositiven funktionieren, hat Foucault gezeigt. Als Instrument sozialer Kontrolle wirkt die Medizin an der gewaltsamen sozialen Konstruktion von Normalität mit und versucht, diese durch die Berufung auf (natur)wissenschaftliche Objektivität der politischen Diskussion zu entziehen. Sie ist daher auf die praktische Kritik der Schwulen-, Lesben- und Frauenbewegungen gestoßen. Erst auf massiven Druck der Schwulenbewegung hin z.B. haben die Psychiater (wenigstens im Westen) aufgehört, Homosexualität als (eo ipso behandlungsbedürftige) Krankheit zu definieren. Heterosexuelle ignorieren gewöhnlich, daß Lesben regelmäßig, allein weil sie lesbisch waren, psychiatrischer Zwangs-,behandlung’ unterzogen wurden.

Die Vorstellung einer ,gesunden’ Sexualität war bereits in der faschistischen Gleichsetzung von Schönheit und Gesundheit, die heute fast unverändert wiederkehrt (Fit for Fun, Men’s Health etc.), impliziert und maßgebend für die spätere sozialhygienische Domestizierung der Sexualität.

Es gilt, den Gesundheitsbegriff der Medizin nicht durch einen ‚besseren’ zu ersetzen, sondern ihn mit einem dialektischen Krankheitsbegriff zu konfrontieren.19

IV. Les plaisirs n’ont pas de passeport

Wir sind gehalten, uns zu identifizieren. Nur so bleiben wir für unsere Mitmenschen berechenbar und für den Staat und andere Organisationen kontrollierbar. Insofern die Subjekte, d.h. die den Regeln der Identifizierung Unterworfenen, es gewöhnt sind, an dieser Identifizierung mitzuwirken, kann es vorkommen, daß sie diese als ,befreiend’ erleben. Als Resultate von Identifizierungen und Identifikationen entstehen sogenannte Identitäten, die naturalisiert werden (Ich bin halt heterosexuell...). Das Erfinden neuer ,Identitäten’, wie z.B. der ,Bisexualität’, mag daher für die Selbstverständigung bestimmter Individuen nützlich sein, kann aber keinen Anknüpfungspunkt für die Auflösung der sexuellen Matrix bieten.

Generell entspricht das identifizierende Denken der Grundstruktur unserer Gesellschaft. Dies hat bereits Adorno gezeigt. Obwohl Foucault nicht dauerhaft an einer Kritik der gesellschaftlichen Totalität interessiert war, bleibt es sein Verdienst, in Sexualität und Wahrheit gezeigt zu haben, daß die Auseinandersetzung um verschiedene Sexualitäten, um ihre Definition wie um die Legitimität bestimmter sexueller Praktiken nicht isomorph zur gesellschaftlichen Gesamtstruktur ist. Die oben beschriebene Durchsetzung der Warenlogik in den Paarbeziehungen ist auch keine Widerspiegelung. Darüber hinaus sind die den Paarbeziehungen immanenten Machtbeziehungen aber auch nicht einfach die Exekution einer gesamtgesellschaftlichen Logik. Die Machtbeziehungen sind der Ort, wo alltäglich, z.B. durch Unterbrechungen beim Reden, Asymmetrien produziert werden. Macht und Ware, also Machtbeziehungen, Produktionsverhältnisse und Tauschbeziehungen existieren nicht als ,Wesen’ hinter den ,Erscheinungen’, sondern nur in den einzelnen Handlungen des Sprechens, Denkens, Arbeitens, Kaufens etc. und in deren psychischen und materiellen Resultaten. Die vermeintliche Substantialität der Identität ist daher, wie die des Geldes, realer Schein.20

V. Zur Hierarchie persönlicher Beziehungen (Paar, Liebe, Freundschaft)

Die zentrale Bedeutung des heterosexuellen Paars ist historisch gesehen relativ neu. Sie ist ein Produkt der atomisierenden Gewalt der Durchsetzung der Wertvergesellschaftung, die nacheinander Sippenverbände, Großfamilien und schließlich auch die Kernfamilie sprengt. Seine objektive Ironie besteht jedoch darin, daß bei der Rückführung auf den vermeintlichen Kern, auf das sakrosankte Individuum, auch dieses sich als teilbar erweist, genauer: Den nun radikal vereinzelten Einzelnen gelingt die Reproduktion ihrer psychischen Einheit immer weniger, die Abspaltung psychischer ‚Inhalte’ wird zum dominanten Abwehrmechanismus, der das Überleben unter verschärften Bedingungen provisorisch ermöglicht.

Daß eine Frau und ein Mann ‚einfach so’, ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen, egal welcher sozialen Schicht sie angehören, heiraten dürfen, wurde erst im 20. Jahrhundert möglich, also zu einer Zeit, als die Institution Ehe schon seit langem massiver Kritik ausgesetzt war. Die Geschichte des Paars ist eine Geschichte der Ungleichzeitigkeiten.

Im Mittelalter existieren mehrere Eheformen nebeneinander. Mit der von der Kirche erreichten Durchsetzung des Konsensprinzips (Ehe als von Mann und Frau frei gewollte Vereinigung der Seelen) ist, auch wenn die Zustimmung der Frauen lange rein formal bleibt, eine erste Herauslösung des Paares aus den vorher allmächtigen Sippenverbänden erreicht.21

Zu Beginn der Neuzeit erfährt die Ehe durch die protestantische Ehelehre eine Aufwertung, für die Frauen verschwindet in den protestantischen Ländern mit der Aufhebung der Klöster die bis dahin einzige Alternative zur Heirat. Die Ehe bleibt aber noch in einen größeren Kontext eingebunden. Die Eheleute sind eher Hausmutter und Hausvater als Ehefrau und Ehemann.

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine Zeit, in der mit seltener Intensität um die Definition der Geschlechter und der Geschlechterbeziehungen gerungen wird. Rousseaus Ideal von der Frau als liebend sich unterordnender Ehefrau und Mutter fand auch bei vielen seiner Leserinnen begeisterte Zustimmung. Selbst in einem so Rousseau-kritischen Text wie A Vindication of the Rights of Women von Mary Wollstonecraft (1792) finden sich idyllische Beschreibungen der glücklichen Kleinfamilie (Penguin-Ausgabe 1992, S. 254ff.).

In dieser Zeit, in der die Illusion vom großen Paar in schönster Blüte steht, ist D.A.F. de Sade einer der ganz wenigen Kritiker der Paarideologie. Er warnt Frauen ausdrücklich vor dem Heiraten und sieht wenig Unterschied darin, ob sie sich ,aus Liebe’ einem Geliebten oder einem Ehemann unterwerfen. Selbstredend kennt er keinen Vorrang der Hetero- vor der Homosexualität. Ansonsten aber setzt sich auf breiter Front die Auffassung durch, daß das höchste Glück auf Erden allein in der heterosexuellen Paarbeziehung zu finden sei, und begleitet als Kampf um die ,Liebesheirat’ das 19. Jahrhundert.

Noch 1799 hat Friedrich Schlegel dieses Paarideal in seiner Lucinde – einem Märchen für Erwachsene,22 das realhistorische Wirkungen hatte – unübertroffen dargestellt. Erst in der Vereinigung, in der Einheit von geistiger und körperlicher Liebe werden Mann und Frau wahrhaft individualisiert. In der Ehe im Schlegelschen Sinn, deren Begriff er von aller schnöden juristischen Referenz zu lösen sucht, ist auch ein anderes Gefühl, eine andere Institution aufgehoben, die von ihren Lobrednern wie die Liebe stets mit den höchsten Aspirationen der Menschheit, oder wenigstens der Männer, verbunden wurde: die Freundschaft. Lucinde ist Julius’ beste Freundin, und zugleich wird der vorher allzu unstete Jüngling nun erst wahrhaft zur Freundschaft fähig. Das Paar aber ist bei Schlegel noch nicht so isoliert wie etwa das Ehepaar in Ingmar Bergmanns Szenen einer Ehe, das allenfalls zu anderen Ehepaaren eher diplomatische Beziehungen unterhält. In relativer Zurückgezogenheit von der vulgären Menge lebend, bilden Lucinde und Julius um sich eine kleine Gesellschaft. In dem Maße aber, in dem sich die Welt der Salons und der ,Gesellschaft’ (im Sinne des 18 Jahrhunderts; wenigstens in Deutschland) auflöst und sich Nachwuchs einstellt, sieht sich das bürgerliche Paar/die Familie auf sich selbst zurückgeworfen und versucht notgedrungen, aus seiner Beschränktheit eine Tugend zu machen. Es entsteht das biedermeierliche Familienideal, das in den 1850er Jahren (und öfter) wieder aufgewärmt wird. Das im prägnanten Sinne moderne, d.h. das nicht immer schon auf eine Familie bezogene Hetero-Paar23 ist daher, von Experimenten in der Bohème um 1900 abgesehen, an das Auftauchen des Typs der sogenannten Neuen Frau in den 1920er Jahren gebunden. Die Ambivalenz dieser Zeit in Bezug auf Z zeigt sich darin, daß sich gleichzeitig mit der Renovierung des Paarideals ein Aufblühen der lesbischen Subkultur ereignet. Bald darauf wird das Paar Zielscheibe aggressiver nationalsozialistischer Biomacht.24

Blenden wir aber noch einmal zurück und erinnern wir uns dabei an eine Konstante des Patriarchats. In diesem werden Beziehungen von Männern grundsätzlich als wichtiger erachtet als die von Frauen. In bezug auf die Homosexualität heißt das, daß diese bei Männern in der Regel härter bestraft wurde als bei Frauen, zumindest sofern diese keine Männerkleider trugen oder in anderer Weise offen die dominante Definition der Geschlechter in Frage stellten.25 Es heißt auch, daß die Beziehungen zwischen Männern seit sehr langer Zeit ausführlich theoretisiert wurden (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, achtes und neuntes Buch). Schon Aristoteles bindet die wahre Freundschaft an die Tugend und Cicero (Laelius) explizit an die Mannestugend, an die virtus.

Der antike Freundschaftsdiskurs wird von den Renaissancegelehrten rezipiert, aber nur Montaigne vermag ihn wirkungsvoll zu erneuern. Montaignes Hochschätzung der Freundschaft ist von besonderem theoretischen Interesse, da er ja nicht zu Unrecht als Pionier neuzeitlicher (männlicher) Individualität gilt. Bei genauerer Analyse des Essays De l’ amitié, d.h. vor allem der Schilderung der als einzigartig dargestellten Freundschaft mit Etienne de La Boétie, zeigt sich, daß auf diese Freundschaft alle Merkmale der leidenschaftlichen romantischen Liebe (heftige rasche Anziehung, völlige Hingabe, Verschmelzung zweier Singularitäten, durch die jede erst wahrhaft lebt, Primat vor allen anderen sozialen Beziehungen etc.) zutreffen. Die milde Wärme, die Montaigne der Freundschaft als Vorzug vor der Liebe zu den Frauen zuschreibt, ist bei Schlegel gerade die Erfüllung, die die männlichen Lehrlinge der Liebe auf der höchsten Stufe finden.

Fassen wir zusammen: Unter dem Druck der kapitalistischen Konkurrenz suchen oder finden Männer im 20. Jahrhundert wenigstens in einigen Ländern eher Verbündete26 als Freunde. In der Mehrheitskultur erscheinen romantische Liebe und Freundschaft als zwei strikt getrennte Arten von Beziehungen, wobei die Hierarchie bei den Erwachsenen, trotz gelegentlicher Dementis, klar ist. Umgekehrt erscheinen die von Paartherapeuten ventilierten resignativen Konzeptionen ‚koevolutiver Partnerschaft’ wie uneingestandene Umcodierungen der Freundschaft, wie sie Kracauer27 beschreibt.

Die schroffen (nicht mehr dialektischen, s.o.) Entgegensetzungen werden durch die Affirmation der Beziehungen zwischen Frauen in der Neuen Frauenbewegung teilweise aufgebrochen; schon vorher waren körperliche Berührungen zwischen Frauen weniger stark tabuisiert, als sie es bei Männern (verstärkt seit dem 19. Jahrhundert) sind. So gab es Raum für Zwischenformen (‚romantische’ Freundschaften).

An Z wird sich wenig ändern, solange das Paar unbefragte Leitfigur bleibt und die Komplexität der vielfältigen Hierarchisierungen sexueller und nicht-sexueller Beziehungen und das Ziehen dieser Grenzen selbst unbedacht bleiben.

Achim Sihler


1 vgl. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980 (zuerst 1935).

2 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels (=GS), Hamburg 1978.

3 Encyclopédie des Nuisances, Heft 1 (1984), Auszug aus der Vorrede (Discours préliminaire), S. 5/6. Vgl. d’Alembert, Jean Le Rond: Einleitung zur ‹Enzyklopädie›, Frankfurt am Main 1989.

4 Die Geschichte hat so die bekanntesten Imperative Rimbauds „Man muß absolut modern sein!” und „Man muß das Leben ändern!” als absolut identisch erwiesen.

5 GS, §23.

6 vgl. GS, §40ff.

7 vgl. Über das Elend im Studentenmillieu [...], Hamburg 1978.

8 in: Lorde,Audre/ Rich, Adrienne: Macht und Sinnlichkeit, Berlin 1993.

9 Vereinfacht gesprochen; vgl. das hervorragende Buch von Echols, Alice: Daring to be bad. Radical Feminism in America 1967-1975, Minneapolis 1993.

10 vgl. jetzt Hamer, Diane und Hudge, Belinda (Hg.): Von Madonna bis Martina. Die Romanze der Massenkultur mit den Lesben, Berlin 1996

11 Rubin, Gayle: „Thinking Sex“ (1983), in: Vance, Carol S. (Hg.): Pleasure and Danger. Exploring Female Sexuality. With a New Introduction by the Editor, London 1992, pp. 267-319.

12 Rubin zeigt, wie während von moralischer Entrüstung bestimmter kurzfristiger heftiger Auseinandersetzungen Gesetze beschlossen werden, die dann für lange Zeit für die Regulierung von Sexualität maßgebend bleiben. Der Anwendungsbereich dieser Gesetze reicht weit über die Verstöße hinaus, die den Vorwand zu ihrer Verabschiedung bilden. Die Ähnlichkeit der von Rubin untersuchten Kampagnen mit den aktuellen (1997) Bemühungen, das Strafrecht zu verschärfen, ist frappierend.

13 Diese Reihung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie zielt zunächst auf die soziale Bewertung ab. Für die innerpsychische Zensur der Subjekte ist es offensichtlich von besonderer Bedeutung, welche Körperteile wie involviert sind. (Das in einigen Bundesstaaten der USA bestehende Verbot des Analverkehrs wird kaum angewandt.)

14 vgl. Littmann, Franz: Der ,normale’ Mittelweg zum ,wahren Selbst’. Analyse und Kritik grundlegender Figuren der Gruppendynamik, Marburg 1980.

15 Ich lehne mich dabei an die in KRISIS 12 (1992) erschienen Arbeiten von Roswitha Scholz und Robert Kurz an. Der Begriff Zwangsheterosexualität wird in der KRISIS zwar gelegentlich verwendet, aber, soweit ich sehe, nie näher thematisiert. All errors are mine.

16 vgl. Kraft, Christiane: Zur Sozialpsychologie von Liebe und Paarbeziehung, Berlin 1993.

17 Laut Statistischem Jahrbuch 1996 soll es im April 1994 in Deutschland 1.658.000 „nichteheliche Lebensgemeinschaften” (1.196.000 ohne, 462.000 mit Kindern) und 19.962.000 Ehepaare (mit und ohne Kinder) gegeben haben. Im Vergleich zu anderen westlichen Ländern gibt es in Deutschland einen besonders niedrigen Anteil an „nichtehelichen” Kindern.

18 vgl. zu diesem schwierigen Thema Schérer, René: Das dressierte Kind. Sexualität und Erziehung: Über die Einführung der Unschuld, Berlin 1975 und Dannecker, Martin: Zur strafrechtlichen Behandlung der Pädosexualität in: ders., Das Drama der Sexualität. Hamburg 1992, S. 72-89.

19 SPK (Sozialistisches Patienten Kollektiv): Aus der Krankheit eine Waffe machen, Heidelberg 1987

20 vgl. zur Fragilität von Identitätskonstruktionen konkret Goffmann, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main 1971.

21 vgl. Duby, Georges: Ritter, Frau und Priester, Frankfurt am Main 1985.

22 vgl. Reich. Wilhelm: Die sexuelle Dauerbeziehung in: ders: Die sexuelle Revolution, Frankfurt am Main 1971, S. 129-138.

23 vgl. dazu exemplarisch zu der Beziehung von Hanna Höch und Raoul Hausmann: Hanne Bergius, Dada und Eros, in: Dech, Jula; Maurer, Ellen (Hg.): Dada zwischen Reden zu Hanna Höch, Berlin 1991, S. 60-81

(Konstitutiv für das Klischee von der Neuen Frau ist das Verblassen der Vorstellung vom ,Mutterinstinkt’, wie sie vor dem ersten Weltkrieg (zum Teil auch innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung) noch virulent war.

24 vgl. Czarnowski, Gabriele: Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991.

25 Faderman. Lillian: Köstlicher als die Liebe der Männer, Zürich 1990.

26 vgl. die kluge Studie von Chesler, Phyllis: Über Männer, Reinbek bei Hamburg 1982.

27 Kracauer, Siegfried: Über die Freundschaft, Frankfurt am Main 1971.

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