Der Angriff der Vormoderne

Die inzwischen schon vielseitig bearbeitete Goldhagen-Debatte1 gibt tatsächlich Anlaß zu einer kulturpessimistischen Sichtweise: Die geradezu pathologisch anmutenden Angst- und Abwehrreaktionen der bürgerlichen Presse und der etablierten bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft lassen sich nicht mehr auf eine längst überlebte TäterInnengeneration zurückführen, die der offiziösen Rechtfertigung bedurft hätte. Es war auch nicht einmal Voraussetzung, Hitlers Willing Executioners gelesen zu haben, um sich über die trotz aller Geschichtsbereinigungsversuche doch angeblich formulierten ,Kollektivschuldthese’ in Goldhagens Arbeit zu empören.

Goldhagen selbst hat in seinem Buch diese Reaktionen unbeabsichtigt vorweggenommen: Er differenziert zwischen latentem und manifestem Antisemitismus und geht von der Reproduktionsfähigkeit grundlegender kognitiver Modelle aus2 wie das des Antisemitismus in Deutschland. Dieser, so aggressiv oder latent man ihn auch einschätzen mag, hat sich einmal mehr mit dieser Debatte als reproduktionsfähig erwiesen.3 Und diese Reproduktionsfähigkeit drückt sich nicht allein in der Tatsache aus, daß den heutigen Juden die Verantwortung für die gegen sie gerichteten Hassausbrüche zugeschrieben wird, weil sie vorgeblich von Zeit zu Zeit immer wieder auf ihren Opferstatus setzen. Die Vermutung liegt nahe, daß auf das Werk eines anderen Historikers mit anderem Namen und anderer geographischer Herkunft anders oder überhaupt nicht reagiert worden wäre.

Dabei sind es genau die legitimen und simplen Fragen, die in der bisherigen Forschung zur Massenvernichtung der JüdInnen nicht Ausgangspunkt waren, die Goldhagen aber stellt, und die ihn zu seiner Arbeit antrieben: „Was dachten die Täter von ihren Opfern? Glaubten die Täter, daß das, was sie taten, richtig war? Wenn ja, wie sind sie zu dieser Annahme gekommen?”4

Das wissenschaftliche Verständnis des historischen Faschismus und des Holocaust ist geprägt durch die ihren Axiomen nach bereits disparate bürgerliche Wissenschaft. Ob historisch, soziologisch, psychologisch oder anders fachspezifisch führt die Gemeinsamkeit der Methode nur zur Sammlung und Ordnung des Empirischen und äußerstenfalls zur Verschmelzung der aus den verschiedenen Gegenstandsbereichen gewonnenen Erkenntnisse.

Die sogenannte marxistische Forschung beanspruchte demgegenüber zwar ein geschichtliches Totalitätsverständnis, allerdings unter dem Vorzeichen der ,Geschichte von Klassenkämpfen’. Auch wenn vorwiegend allein die DDR-Geschichtswissenschaft die Entwicklungstendenzen des Kapitals zur Folie hatte und im Gegensatz zum bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb den angeblich wissenschaftlich objektiven Standpunkt verließ, um die immer noch verschwiegenen gemeinsamen Interessen der reichsdeutschen Bourgeoisie und der NSdAP beim Namen zu nennen, verkürzte sie meist die Erklärung des Holocaust auf die Frage des cui bono. Antisemitismus und mörderischer Judenhaß seien „Blitzableiter des Volkszorns”5 und demnach sei dieser Volkszorn durch die herrschenden ,Monopolherren’ in der Weltwirtschaftkrise auf die Falschen umgelenkt worden. Das Ganze des Holocaust kann aber auch kaum zureichend mit der Vernichtung durch Arbeit – praktiziert unter anderem von den IG Farben in Auschwitz-Monowitz – begriffen werden.

In diesem Zusammenhang darf nicht der Hinweis auf die „politische Ökonomie des Antisemitismus”6 fehlen, zumal der Arbeiterbewegungsmarxismus durch seine zirkulativ-verkürzte Kritik des Kapitalismus ebenfalls zu einer pejorativ besetzten Stigmatisierung des Finanz- und Geldkapitals beigetragen hat, die eine tendenzielle Kompatibilität mit Visionen von ,jüdischer Zinsknechtschaft’ etc. aufweist.

Goldhagens Einbruch in die ,Normalität’

Unsere Absicht kann hier nicht sein, die Arbeit Goldhagens einer wertkritischen Rezension zu unterziehen. Dies können wir weder leisten, noch läßt sich eine so umfassende geschichtlich-empirische Forschung an einer ,unempirischen’ Theoretisierung messen.

Goldhagens Werk erschöpft sich selbstverständlich nicht allein in kruden Fakten: Der Antisemitismus der Moderne stellt sich für ihn als ein kulturell tradierter, aus religiös-christlichen Motiven gespeister dar, der in einem deutschen Sonderweg überdauerte und umschlug. „Als Schlußfolgerung wird sich ergeben, daß während der NS-Zeit in Deutschland fast unangefochten eine Vorstellung von den Juden herrschte, die sich als ,eliminatorisch’ bezeichnen läßt. Man glaubte, der seinem Wesen nach zerstörerische jüdische Einfluß müsse ein für allemal aus der Gesellschaft entfernt werden.”7

Der eigentlich anachronistischen Erscheinung konnte nur mit einer „fanatisch antisemitischen Bewegung” (S. 490) zum Durchbruch verholfen werden, die mit ihrer staatlichen Konstituierung das antisemitische Bewußtsein der Deutschen vollstreckte. Mit einer wissenssoziologischen – so Goldhagen selbst – Methodik sieht er den individuellen Wissensbestand eingebunden in die ,politische Kultur’, die es in Deutschland nicht vollbracht habe, den demokratischen Diskurs anstelle des antisemitischen zu setzen. Dem Holocaust vorausgegangen sieht er einen christlich-mythologischen Antisemitismus, der sich spätestens im 19.Jahrhundert in einen ,Rasse-Antisemitismus’ verwandelte, der mit der Konstruktion der Nation einherging.8

Mit dieser Zuordnung zur Vormoderne fällt es Goldhagen auch leicht – wobei er in der Konsequenz hoffentlich mit seiner diskurstheoretischen Anleihe Recht behält –, die Bundesrepublik, wie ihre RepräsentantInnen sie auch selbst gern sehen, durch einen konstatierten Diskursbruch in der Gemeinschaft der Moderne zu verorten: Das nationale ,Gespräch’ sei nach dem verlorenen Krieg und dem Holocaust sukzessive dem demokratischen gewichen.9

Schuld und Theoretisierung

Ist es nach Auschwitz möglich, Auschwitz zu theoretisieren? So oder ähnlich dürfte in Analogie zu Adorno die selbstbeschneidende und –bezichtigende Frage lauten, die sich ,deutsche Linke’, die diesen Gegenstand geschichtsphilosophisch einzufangen versuchen, stellen. Hat nicht jede Theorie des Massenmordes an den europäischen JüdInnen das Moment der Rechtfertigung der TäterInnen in sich, zumal in strukturalistischer Einfärbung und geschichtsteleologischer Herangehensweise?10

Insbesondere gegen die orthodoxe ML-Geschichtswissenschaft mit ihrer Fixierung auf die ,Interessen’ des Monopolkapitals richtet sich der Vorwurf, sie habe mit der Unterordnung des Holocausts unter die durch die NSdAP vollzogenen Pläne des Kapitals die besondere Bedeutung des eliminatorischen Antisemitismus unterschlagen und zum Teil die verführten Deutschen, bzw. zumindest das deutsche Proletariat, fälschlicherweise in Schutz genommen.

Diesen Schuh ziehen wir uns natürlich nicht an. Zum einen setzt die moralische aber nicht persönliche Schuld selbst, wenn auch als unbewußte, die sich bei vielen Linken konstatieren läßt, den nationalen Diskurs voraus und damit die eigene Identifizierung entweder als TäterIn oder mit den Opfern.

Andererseits verweist die Ablehnung einer Theorie der Judenvernichtung, welche besagt, daß das zunächst als irrational Verstandene – der Massenmord – nicht ins Rationale verkehrt werde dürfe, selbst auf die Weigerung, den Nationalsozialismus als Teil der – keineswegs im eigentlichen Sinne rationalen – Moderne zu verstehen. Diese Ablehnung setzt allerdings einen Begriff der Rationalität voraus, der entweder positivistisch ist, oder den zur Wirklichkeit kommenden Weltgeist am Werke sieht. Aber als Irrationales, weder z.B. der Kriegführung Dienendes, noch dem Standpunkt der betrieblichen Kapitalverwertung notwendig Inbegriffenes und auch nicht aus der Geschichte der Deutschen kausalgesetzlich Folgendes ist es ein Bekenntnis – ein Bekenntnis zur deutschen Schuld am Unfaßbaren.

Die Linke hat dementsprechend gegenüber dem Unbegreiflichem begrifflos reagiert. Denn sie selbst versteht sich im gutbürgerlichen Sinne als aufklärerisch, d.h. sie versteht sich überhaupt nur durch die apriorische Geltung des warenförmig-vermittelten Subjektes als freies und gleiches, also nur insofern, als sie die Konstitutionsgrundlagen ihres kritischen und analytischen Potentials im selbstprozessierenden Widerspruch des Kapitals nicht begreift. Die kapitalistische Moderne, zu dessen Durchsetzungsgeschichte zweifellos der deutsche Faschismus gehört, kann also keineswegs durch eines ihrer eigenen Momente verstanden werden, ohne die gesellschaftliche Form zu reflektieren, die sie konstituiert.

Das quasi-Bekenntnis zur ,deutschen Schuld’ mag demnach zwar politisch die einzige Antwort auf die Hegemonie der Leugnung und Reinwaschung sein, setzt aber den Bruch mit der Vergangenheit voraus. Am Ende kommen rechte wie linke DemokratInnen auf dasselbe Ergebnis: Der Antisemitismus als Ursprung des Holocaust sei Teil der Vormoderne, und damit nicht nur heute in der geläuterten BRD überwunden, sondern auch ein Angriff aus archaischer Zeit auf die Zivilisation selbst. Allerdings betonen die bundesdeutschen DemokratInnen ,Wachsamkeit’ gegenüber der immer noch lauernden Gefahr dieser jenseitigen, schlummernden Vormoderne. Der einzig wesentliche Unterschied in den Positionen besteht – um es zu überspitzen – nicht bei den Geschichtsfälschern in der Anzahl der Opfer, sondern in der Anzahl der Täter. Hier hat die Soziologie gesiegt: Entweder war es die durchgeknallte Clique der Nazis mit ein paar tausend eingeschworenen AnhängerInnen, oder es war mehrheitlich das deutsche Kollektiv.

Kapitalfetisch und moderner Antisemitismus

Moishe Postone formulierte in dem Artikel Antisemitismus und Nationalsozialismus11 einen Ansatz zur Erklärung des modernen Antisemitismus, der den Verkürzungen der positivistischen Geschichtsforschung aus dem Weg geht. Er liegt den folgenden Ausführungen als Leitfaden zugrunde und kann u.E. auch methodisch weitreichende Perspektiven für eine historisch-kritische Betrachtung von geschichtlichen Ereignissen liefern.

Das bisherige allgemeine Dilemma bei der Frage nach den Konstitutionsbedingungen des modernen Antisemitismus bestand in der Tatsache, daß mit empirischen Mitteln und der soziologischen Konstruktion von Großsubjekten, Klassen, Schichten etc., die Segregation einer Menschengruppe nur beschrieben werden konnte, ohne die gesellschaftlichen Ursprünge der Eigenschaftszuordnungen und ihre Funktion erklären zu können. Erschwerend kommt dabei im Gegensatz zum ,üblichen’ Rassismus hinzu, daß es beim modernen Antisemitismus nur der Fiktion einer obskuren Gruppe von Verschwörern bedarf, die mit großem Einfluß aus der Ferne ihr Unwesen treibt (,Wallstreetjuden’) und gar nicht als ,jüdische’ Menschen auftauchen muß, um im realen Handeln der bürgerlichen Gesellschaft geschichtsmächtig zu werden.

Die pejorativ besetzten Identifikationen könnten mit dem psychologischen Terminus der Projektion beschrieben werden. Allerdings verwehrt die psychologische Herangehensweise aufgrund der methodisch vorausgesetzten abstrakten Individualität der Betrachtung zugleich die Einsichten in die besonderen historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Projektionen. Die Opfer sind offenbar nicht beliebig wählbar und unter dem Aspekt ,Sündenbock’ subsumierbar.12

Warum gerinnt nun im NS der ,Jude’ gerade zu der Unperson, in der solche per se nicht-empirischen Eigenschaften wie Substanzlosigkeit, Universalismus und Omnipotenz vereinigt werden und die gleichermaßen für die Konstruktion einer ,Weltverschwörung gegen das deutsche Volk’, die ,Zinsknechtschaft’ und das der stofflichen Gestalt gegenüber gleichgültige ,Prinzip des Geldes’ verantwortlich gemacht wird?

Diese den modernen Antisemitismus charakterisierende Stigmatisierung geht weit über den christlich-abendländischen Antijudaismus hinaus und hat geradezu systematischen Welterklärungsanspruch.

Um die Quellen dieser Stigmatisierung aufzuspüren, dürfen wir das traditionelle, kulturell verankerte Bild von der jüdischen Bevölkerung als Händler und Geldverleiher in den Zeiten der einfachen Warenproduktion lediglich als Anknüpfungspunkt für diejenigen historisch und inhaltlich neuen Projektionen betrachten, die mit den umwälzenden Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise in den ersten dreißig Jahren dieses Jahrhunderts Einzug gehalten haben. Die geschichtlichen Entwicklungen zur Zeit der Weimarer Republik, die rasante Ausdehnung der industriellen Produktionsweise und ihrer finanzkapitalistischen Begleiterscheinungen und das damit verbundene Vordringen der abstrakten Geld- und Rechtsbeziehungen bilden die Grundlage für das sukzessive Auflösen der ,gemütlichen Verhältnisse des Kaiserreiches’ mit ihrer kleinbürgerlichen und patriarchalen Grundstruktur. Diese Entwicklung konnte von vielen Menschen nur als angsterzeugender und desorientierender Prozeß wahrgenommen werden.

Die ideologische Massenwirksamkeit der NSdAP bestand nun gerade darin, den ungreifbaren Schuldigen der anmassenden Abstraktionserfordernisse der modernen Ware-Geld-Beziehungen durch die Naturalisierung dieses Abstrakten im ,Juden’ zu personifizieren und die scheinbar konkrete Seite der Vergesellschaftung – die ,Arbeit’ und das ,deutsche Volk’ – ihr gegenüber abzusetzen und emphatisch zu bejubeln. Dadurch, und darauf kommen wir später zurück, gelingt es den Nazis nicht nur einen ,Blitzableiter des Volkszorns’ zu installieren, sondern über die beginnende Rüstungs- und Kriegsökonomie eine Transformation und Modernisierung des kapitalistischen Ausbeutungssystems selbst einzuleiten.

Postone rekurriert bei der Erklärung dieses Phänomens auf die von Marx im Kapital beschriebene Form der gesellschaftlichen Reproduktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen: der fetischisierenden Wertform der Ware, die das Auseinanderfallen des Warencharakters in Gebrauchswert- und Wertseite begründet, und der spezifischen Kapitalform des Wertes, die zugleich den zu-sich-kommenden Wert als gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang konstituiert. Mit dem wesentlichen Aspekt des Kapitalfetischs geht Postones Erklärungsansatz im Grunde weit über die Auffassungen Horkheimers und Adornos hinaus, die in der Konstruktion des ,Juden’ lediglich das verderbliche der Zirkulationssphäre identifiziert sahen. Der prozessuale Charakter dieser Entwicklung kann aber nur über die vermittelnde Totalität des Kapitalverhältnisses verstanden werden, deren in der Zirkulation erscheinende Seite nur ein Moment darstellt.

Nun sind die oben genannten nicht-empirischen Eigenschaften, die der sozialen Konstruktion ,des Juden’ dienten, alles Merkmale der Wertseite der Ware, die nicht als solche erscheinen kann, sondern sich im Gelde verdinglicht äußern muß, um dem entfalteten Warentausch ihr funktionelles Medium zu geben. So erscheint die Auflösung der sozialen Scholle vieler KleinbürgerInnen in den zwanziger Jahren notwendig als durch das ,Prinzip des Geldes’ vermittelt. Denn die potenzierte Produktivität der beginnenden fordistischen Produktionsweise konnte nur so der Konkurrenz ihr anachronistisches Produktivkraftniveau existenzbedrohend verdeutlichen.

Hier wird auch schon gleich der zweite, spezifische Fetischismus deutlich, der auf der logischen Ebene des Kapitals die konkrete, stoffliche Seite, die maschinelle Industrie, von der abstrakten Wertseite trennt. Die tautologische Rückbezüglichkeit des Kapitals als Verwertung des Wertes, dessen realisierter Mehrwert in seine verdinglichten Bestandteile Profit, Zins und Grundrente zerfällt, sieht der/die AntisemitIn nicht als wesentliches Moment der Entwicklung der industriellen Produktionsweise selbst, sondern als abstraktes Prinzip, das dem stofflichen Produktionsprozeß negativ gegenübergestellt ist. Umgekehrt nimmt er jedoch letzteren als die eigentliche und natürliche Reproduktionsgrundlage wahr. Die Industrie erscheint ihm so als die ehrliche Aufhebung der handwerklichen Arbeit, als ,schaffendes Kapital’. Demgegenüber stellt sich die wesentliche Formbestimmung des Kapitals, durch zinstragenden Kredit den Möglichkeitsstatus der Verwertung zu verwirklichen, in der NS-Ideologie selbst als der Produktion Fremdes und Aufzehrendes, als ,raffendes Kapital’ dar. Im NS-Begriff der ,Zinsknechtschaft’ erscheint dieses der Kapitalform des Wertes immanente Prinzip fetischistisch personalisiert.

Selbst die Lohnarbeit mußte ideologisch von ihrer Wertseite getrennt werden. Dies war möglich,da sich der Wert der Arbeitskraft immer in den bereits produzierten Gütern für ihre Reproduktion darstellt; er setzt sich im einfachen Warentausch um und endet dort: G-W. Die Gebrauchswertseite der Ware Arbeitskraft existiert demgegenüber nur in dem Prozeß der Kapitalverwertung, ist hier zeitlich und im Gegensatz zum üblichen Konsum abstrakt, da sie nur in ihrer gesellschaftlichen Formbestimmung imstande ist, zu jeder Zeit mehr Wert zu produzieren, als sie zu ihrer Reproduktion benötigt. Da dieser gesellschaftliche Prozeß gemäß der Form der Warenproduktion erst post festum in der erweiterten Reproduktion des Kapitals und hier wiederum erst positiv in der materiellen und technischen Erweiterung der Produktionsmittel erscheint, scheint die Produktivität der Arbeit als materielle Tätigkeit hier wie im alten Handwerk per se zweckgerichtet und in der kooperierenden Produktionsweise dem ,schaffenden Kapital’ von Natur aus zuzugehören.13 Das Kreditkapital und der Zins konnten sich demgegenüber nur insoweit als notwendige Durchgangsstadien des Kapitals selbst darstellen, als sie als logisch Erstes, wie es sich in der Formel G-W-G' ausdrückt, immer vorhanden waren. Diese Formen des Kapitals fristeten als verdinglichter Zeitfond abstrakter Arbeit aber dann nur noch ein Dasein als scheinbar parasitäre Negation des produktiven Prozesses, als sie in der großen Weltwirtschaftskrise nach 1929 nur noch schwer für realkapitalistische Verwertung zu mobilisieren waren.

Der stoffliche Produktionsprozeß und seine dynamische Erweiterung wurden deswegen – entsprechend dem Blut-und-Boden-Fetisch der Nazis – als Teil des organischen Volkskörpers hypostasiert. Er wird ihrer wesentlich abstrakten Bestimmung unversöhnlich gegenübergestellt. Die Heiligung der ,deutschen Arbeit’ und des ,schaffenden Kapitals’ gegen die Verteufelung des ,Geldprinzips’ und des ,raffenden Kapitals’ reißt zwei Seiten einer Einheit des kapitalistischen Vergesellschaftungsprinzips auseinander, so daß man den NS als Revolte der bürgerlichen Gesellschaft gegen sich selbst definieren kann. Durch den modernen Antisemitismus wurde die abstrakte Seite der kapitalistischen Vergesellschaftung aber nur stellvertretend exekutiert: „...Auschwitz war eine ‘Fabrik zur Vernichtung des Werts’, d.h. zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten.”14

Der Fordismus der Kriegsökonomie

Der spezifische Antikapitalismus des deutschen Faschismus griff aber nicht einfach zu kurz, er transformierte mit der Deifizierung der Arbeit das System auf der Grundlage einer leerlaufenden Rüstungsproduktion sogar zu einer entwickelteren Stufe der kapitalistischen Produktion, dem Fordismus. Die Rüstungsproduktion hatte gerade die Besonderheit, Werte zu schaffen, deren Eigenschaft es ist, nicht-reproduktiv zu sein.15

Da diese Rüstungsgüter nicht auf dem internationalen Markt eingetauscht werden konnten, sondern unter dem Diktat der Überakkumulation für die Produktion um der Produktion willen geschaffen wurden, mußte ihr Wert sich erst noch realisieren. Der Weg der Kapitalverwertung, der auch die erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens ermöglicht, ist die systematische Verbilligung der Reproduktionsgüter der Arbeitskraft (relative Mehrwertproduktion). Demgegenüber fand im Nationalsozialismus ein ,Regime der absoluten Mehrwertproduktion’ seine staatliche Ausformung.16 Dieses konnte per se nicht auf die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens abzielen, da der Wertetransfer zur erweiterten Reproduktion des Kapitals nicht mehr über die Kaufkraft der Bevölkerung realisiert wurde. Die Universalität der Warenform mußte durch die Totalität des faschistischen Staates und seines militärischen Geltungsanspruches gewährleistet werden, um den sonst durch den Geldkredit vermittelten Zugriff auf die Produktivfunktionen des Kapitals zu ermöglichen.

Das Kreditkapital scheint nun durch die Exekutive des faschistischen Volksstaates ersetzt worden zu sein, ohne daß ein ,Zins’ zu zahlen wäre. Im metaphorischen Sinne war die ,Zinslast’ des Nazistaates allerdings viel größer. Auf Kosten der menschlichen Reproduktion wurden in der Kriegsökonomie nicht-reproduktive Werte angehäuft, über die nur indirekt über die räuberische Aneignung Äquivalente zur Devisenbeschaffung rekrutiert werden konnten.17

Die Praxis der kapitalistischen Ökonomie im zweiten Weltkrieg bedurfte deswegen der unbedingten Aufrechterhaltung eines rein auf die funktionellen Eigenschaften eines Gegenstandes versierten Bezuges, weshalb seine abstrakte Wertseite stellvertretend an der „jüdischen Rasse” zwangsexekutiert werden mußte. In diesem Formierungsprozess wurden auch die durch die Wertseite konstituierten bürgerlichen Rechte und Freiheiten zerstört, damit der faschistische Staat den dispositiven Teil der Kapitalfunktion ungehindert übernehmen konnte.

Dieser Zusammenhang zwischen Kriegsökonomie und eliminatorischem Antisemitismus müßte im Bezug auf den durch den Kapitalfetisch konstituierten Gegenstandsbezug der NationalsozialistInnen näher untersucht werden.

Die vermeintliche Teleologie des Kapitals

Den Faschismus kennzeichnet nun auf der Erscheinungsebene die Suspendierung der Zirkulationssphäre als „Garten Eden bürgerlicher Gründerakte” (Horkheimer) und Ort reziproker Anerkennung der Rechtssubjektivität. Das „Regime der absoluten Mehrwertproduktion” (Sohn-Rethel) bedurfte des militärisch gesicherten Zugriffs auf Rohstoffe und Arbeitskräfte; die militärische Organisation des Faschismus auf der einen und die technokratische Verwaltung des Gesamtprozesses auf der anderen Seite bildeten durch das organizistische Gesamtbild von ,deutschem Volk’ und ,schaffendem Kapital’ selbst die universelle Verdinglichung der Produktionsverhältnisse und sorgte dadurch für eine Verallgemeinerung der Arbeit im kapitalistischen Produktionsprozeß, der tayloristischen Produktionsweise als nachholender Modernisierung des national-ökonomischen Raumes.

Der Bruch zur Weimarer Republik bestand also in dem Übergang von der abstrakten Individualität und den freien Rechts- und Tauschbeziehungen zum ,Volksgenossen’; so sollte übrigens die faschistische Version des Bürgerlichen Gesetzbuches heißen, die sich jedoch nicht gegen den konservativen Juristenstand durchsetzen konnte. In dieser imaginierten Bestimmung verschwand die Reziprozität der Warenform als erscheinendes Strukturmerkmal der Vergesellschaftung in der Totalität des ,Volksstaates’, welcher zugleich die Menschen ideologisch von ihren Herkunfts- und Schichtendünkeln befreite, indem die Deutschen sich nun unabhängig von ihrer sozialen Lage zur auserwählten ,arischen Rasse’ zählen durften.

Die völkisch-korporatistische Variante der Wertrealisierung liquidierte zwar durch Ausrottung, Zwangsarbeit und Unterordnung das der ,Normalzirkulation’ vorausgesetzte freie Warensubjekt, dieses fand seine Aufhebung aber in der vermittelnden Totalität des zum völkischen Bezugssystem verdinglichten Kapitalfetischs. Charakteristisch erzeugte jener unter der beginnenden fordistischen Produktionsweise die Zwangsfunktionalität der Arbeit, während das scheinbar disparate Gegenüber des Kapital-Arbeitsverhältnisses, das Geld, stellvertretend durch die im ,Juden’ personifizierte Nichtarbeit zu exekutieren versucht wurde.

Der Kapitalfetisch, der im Bild des ,schaffenden Kapitals’ zum organischen und selbstzweckhaften Subjekt der Geschichte wurde, zerstörte durch den antisemitischen Abspaltungsmechanismus nur oberflächlich die Wertseite und die bürgerliche Rationalität, denn das wesentlich durch die Produktionsweise konstituierte gesellschaftliche Verhältnis mußte unter dieser Form unangetastet bleiben. Das Kapital bekommt nur dann den Schein einer Teleologie, wenn die kapitalistische Produktionsweise ihre zugehörigen Fetischismen des Gegenstandsbezuges ohne kritische Auseinandersetzungen reproduzieren kann. Nur die Krise selbst also kann die Momente der Kritik liefern.

Die demokratische Buße ist demnach kein anderes Prinzip, sondern nur die Fortsetzung der Verdrängung der Konstitutionsfrage des abstrakten Formprinzips kapitalistischer Vergesellschaftung, diesmal in der ,endgültigen Originalgestalt’ des freien und voraussetzungslosen Marktsubjektes. Welche barbarischen Potenzen sich hier noch offenbaren können, läßt die heutige Entwicklung erst erahnen.

1 Die marxistische Linke hat – in all ihren Spielarten – dazu mit mehr oder weniger Erfolg ihren Beitrag geleistet (z.B. Otto Köhler in konkret 9/96; Gegenstandpunkt 1/97; Berthold Brunner in 17° Celsius Dez. /Jan. 96/97 und außerdem in bahamas 21/96; Joachim Bruhn in bahamas 22/97). Einen weiteren Mosaikstein ‘marxistischer’ Theoriebildung anzufügen, ist nicht unser Anspruch.

2 Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, Seite 55.

3 Hier soll nur an den bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber erinnert werden, der nach der Abreise Goldhagens in die USA Vermutungen über dessen Einkünfte durch die Lesereise in der BRD geäußert hat.

4 So Goldhagen auf der ersten seiner Veranstaltungen in Hamburg

5 So z.B. der DDR-Historiker Gossweiler: Faschismus, Imperialismus und Kleinbürgertum, 1977, in: Aufsätze zum Faschismus, Köln 1992, Seite 349 ff.

6 Siehe dazu u.a. Robert Kurz in KRISIS 16/17.

7 Goldhagen, Seite 69.

8 Goldhagen, Seite 90 ff.; 103.

9 So im Vorwort zur deutschen Ausgabe, Seite 12; 13.

10 Clemens Nachtmann hat in bahamas Nr. 21 einen Vorwurf dieser Art an die Krisis gerichtet.

11 Postone, Moishe: Antisemitismus und Nationalsozialismus (1982), z.B. in: Werz, Michael: Antisemitismus und Gesellschaft, Frankfurt 1995.

12 Dies führt auch Goldhagen ins Feld, ohne die Frage beantworten zu können, warum es die JüdInnen traf

13 Vergl. K. Marx, MEW Bd. 23, S.352

14 Postone, Moishe: Antisemitismus und Nationalsozialismus (1982)

15 Sohn-Rethel, Alfred: Industrie und Nationalsozialismus, Köln 1992

16 Dabei möchten wir betonen, daß diese beiden Methoden der Mehrwertproduktion zwar eine untrennbare Einheit bilden, sie aber schwerpunktmäßig immer schon von der staatlichen Politik zur Krisenbewältigung verlagert wurden.

17 vgl. .Sohn-Rethel, Alfred: Industrie und Nationalsozialismus, Berlin 1992, Seite 157. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch Sohn-Rethel zur Erklärung des faschistischen Staates eine positivistisch-verkürzte Auffassung des kapitalistischen Produktionsprozesses hat: Aufgrund der inneren Zeitökonomie der modernen (fordistischen) Produktionsweise ließe sich die Produktionssphäre nicht mehr den Regulativen des Marktes unterwerfen, weswegen der Staat korporativ (Faschismus) oder regulierend (Sozialdemokratie) eingreifen müsse. Dies verkennt völlig, daß Markt und Staat zwei gleichursprüngliche Momente der vermittelnden Totalität des Kapitals darstellen, die in der abstrakt-allgemeinen Geltung des Geldes ihren gemeinsamen Kristallisationspunkt haben.

Andreas Harms, Göttingen und Andreas Schröder, Berlin

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