„science wars“ und Naturwissenschaft als große Erzählung des Kapitals

In den USA ist seit ca. zwei Jahren eine heftige Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft im Gange. Der als science wars bezeichnete und unter Einbeziehung aller Medien ausgetragene Streit dreht sich im Kern um eine Wissenschaftskritik, wie sie v.a. von seiten der cultural studies vorgetragen wird. Diese Kritik, die in Zeitschriften wie Social Text u. a. seit Jahren formuliert wird, trifft auf heftigen Widerspruch vor allem bei NaturwissenschaftlerInnen.

In der Naturwissenschaft herrscht nach wie vor ein ungebrochen unkritisches Verhältnis zu Problemen der Erkenntniskritik vor. Deren Zusammenhang mit bürgerlicher Subjektkonstitution, Geschlechtskonstitution, den Diskursen des Kolonialismus und der okzidentalen Suprematie bleibt ausgeblendet. Die Dekonstruktion der hard sciences (exakten Wissenschaften), als mit Kapitalismus, Imperialismus, Unterdrückung, Rassismus etc. verzahnte Machtapparate erscheint vielen FachwissenschaftlerInnen anmaßend. Die „postmoderne Zumutung” durch die cultural studies wird als Bedrohung der sakrosankten akademischen Domäne betrachtet. Die Evidenz des Experiments, die Neutralität der mathematischen Formeln und die Allgemeingültigkeit der physikalischen Gesetze gilt als Beweis für deren Ahistorizität und absolute Wahrheit.

Auffallend ist zum einen die Vehemenz, mit der die Abwehrreaktionen stattfinden, und zum anderen der Zeitpunkt. Warum wird von Seiten der naturwissenschaftlichen Eliten gerade jetzt zum Angriff geblasen gegen eine Wissenschaftskritik, die schon seit Jahrzehnten diskutiert wird? Das hängt mit dem 1989er Umbruch zusammen: Die großangelegten Forschungsprogramme v.a. in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung sehen sich seit einiger Zeit mit massiven Kürzungen ihrer Budgets konfrontiert. Der jüngst erfolgte Baustopp des Megaprojekts american supercollider, eines Teilchenbeschleunigers, der in jeder Beziehung als Superlativ angelegt war, markiert diese Trendwende. Wegen ihrer engen Verknüpfung mit dem militärisch-industriellen Komplex, v.a. in den USA, ist die Grundlagenforschung seit dem kampflosen Abtreten des Systemfeinds Sowjetunion in argen Begründungsnotstand geraten. So verwundert es nicht weiter, daß einige Autoren die Infragestellung der westlichen, aufgeklärten Wissenschaft durch die ,Postmoderne’ mit der Bedrohung durch das Sowjetimperium vergleichen. Die Kritik an der westlichen episteme scheint zu einer Art künstlich hervorgerufenem Sputnik-Schock zu werden. (Das Auftauchen des ersten künstlichen Erdtrabanten führte zu einer Panik beim wissenschaftlichen Establishment in den USA und zu der Befürchtung, die jungen Generationen würden zu technologischen Analphabeten werden, die Nation werde gegenüber der Sowjetunion hoffnungslos ins Hintertreffen geraten etc. Daraufhin wurde u.a. die mathematische Ausbildung an den Schulen umgekrempelt – die rabiate Einführung der Mengenlehre in den Schulunterricht war eine der Folgen!)

Sokal affair

Als eine der Initialzündungen für die science wars kann die sogenannte Sokal affair gelten. Der amerikanische Physiker Alan D. Sokal hat im Frühjahr 1996 in der Zeitschrift social text einen Beitrag mit dem Titel Transgressing the Boundaries. Towards a transformative hermeneutics of Quantum Gravity (Grenzüberschreitung. In Richtung einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation) lanciert. Darin bricht er eine Lanze für die kulturrelativistische und historisierende Wissenschaftskritik. Sokal kritisiert die ablehnende Haltung seiner Fachkollegen gegenüber den Disziplinen, die sich mit der Kritik des Sozialen und der Kultur beschäftigen: „Sie klammern sich auch weiterhin an das Dogma, das dem intellektuellen Weltbild des Westens durch die nach-aufklärerische Hegemonie auferlegt wurde; es kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Es existiert eine Außenwelt, deren Eigenschaften unabhängig vom Menschen sind, diese Eigenschaften drücken sich in ,ewigen’ physikalischen Gesetzen aus, der Mensch kann verläßliche, wenn auch unvollkommene und vorläufige Kenntnis dieser Gesetze erlangen.”

Die Kritik an der Annahme, „daß da eine Außenwelt existiere”, macht stutzig. In der Tat finden sich im weiteren Verlauf des Artikels noch andere seltsame Blüten: „morphogenetische Felder” (eine wirre New-Age-Vokabel, die nichts mit Physik zu tun hat), die durch kein Argument gestützte Behauptung, Lacans psychoanalytische Spekulationen hätten durch neueste Arbeiten im Bereich der Quantenfeldtheorie Bestätigung gefunden, sowie die Aussage, das Gleichheitsaxiom der Mengenlehre bestärke das „gleichlautende Konzept in der feministischen Politik”.

Alan D. Sokal gab kurz nach der Veröffentlichung seines Artikels bekannt, er habe einen inhaltlich unsinnigen Artikel lanciert, um zu beweisen, daß gewisse cultural-studies-Kreise die wissenschaftliche Sorgfalt vermissen ließen bzw. daß dieser Mangel an Sorgfalt mit den modischen „postmodernen” Theorien selbst zusammenhinge, die Sokal in die Nähe obskurantistischer, gegenaufklärerischer Auffassungen rückte.

In seiner Antwort auf diesen Vorfall wirft das HerausgeberInnenkollektiv von social text Sokal vor, er reduziere postmoderne erkenntnistheoretische Positionen zu bloßen Karikaturen. Sokal lege diese Karikaturen außerweltlichen Fanatikern in den Mund, die die Existenz von Fakten, objektiver Realität und der Gravitationskräfte leugneten. Sokal mache es sich zu leicht, wenn er eine imaginäre oder zumindest völlig marginale und sektiererische Position als die Position der cultural studies, der Postmoderne, des Dekonstruktivismus darstelle, um diese dann ad absurdum zu führen. Es sei dann auch billig, die so karikierte Position in die Nähe von New-Age-Phantastereien, Obskurantismus und Gegenaufklärung zu rücken. Abschließend bekräftigen die HerausgeberInnen ihre Ansicht, daß sich auch Laien zur Methodologie und Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften, die ja mehr als jeder andere Wissensbereich das Alltagsleben beeinflusse, äußern sollten: „Nach Jahrhunderten des wissenschaftlichen Rassismus, wissenschaftlichen Sexismus und der wissenschaftlichen Beherrschung der Natur hätte man meinen können, daß das eine sachdienliche, adäquate Frage sei.”

Backlash der Fachidioten

Alan D. Sokal vertritt eine Haltung, die bei Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern weit verbreitet ist: Die meisten von ihnen sind geprägt von einer aufklärerischen, antimystischen Grundhaltung, viele von ihnen sind irgendwie links, demokratisch, sozial engagiert. Niemand will gerne an Rüstungsforschung beteiligt sein (auch wenn die meisten davon abhängen), die grundlegenden Dogmen der modernen Naturwissenschaft werden ungebrochen vertreten. Naturwissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung heißt nicht viel mehr als Technikfolgenabschätzung und mahnendes Stirnrunzeln über die Rüstungsforschung. So meint auch Alan D. Sokal, eine Zeitschrift wie social text könne bestenfalls wichtige Fragen nach dem Einfluß privater und öffentlicher Förderung auf die wissenschaftliche Arbeit und dergleichen stellen.

Es scheint für NaturwissenschaftlerInnen unzumutbar zu sein, ihr eigenes Tun und Denken, ihre Methode der Erkenntnisgewinnung und insbesondere die kulturelle und gesellschaftliche Bedingtheit ihres Tuns zu reflektieren. Die Weigerung, eine Selbstreflexion des Wissenschaftsbetriebs zuzulassen, geht mit der Verdammung ,postmoderner Theorien’ einher. Diese werden als gefährlicher Relativismus, der die Kriterien der Vernunft, der Rationalität und damit die der Wissenschaft und ihrer Methode dekonstruieren will, angesehen. In Sokals Klagen über den postmodernen Subjektivismus, der objektive Realität und deren Erkenntnis auflöse in „bloßen Text, Sprache, Diskurs, Rhetorik, Sprachspiel”, offenbart sich sein pragmatischer Positivismus: „Das Theoretisieren über die ,soziale Konstruktion von Realität’ wird weder helfen, eine wirksame Heilmethode gegen AIDS zu finden, noch wird es eine Strategie gegen den Treibhauseffekt liefern. Auch wird es nicht dabei helfen, falsche Auffassungen über Geschichte, Soziologie, Ökonomie und Politik zu bekämpfen, wenn wir die Begriffe wahr und falsch ablehnen.” Hier wird besonders deutlich, daß die mittlerweile gut hundertjährige Geschichte der Wissenschaftskritik, so bescheiden ihr Bezugsrahmen und ihre Ergebnisse auch sein mögen, an Alan D. Sokal – und da ist er ganz und gar kein Einzelfall – spurlos vorübergegangen ist.

Der Glaube an die Objektivität der Naturwissenschaft (in einem ganz naiven Sinne) als von der Subjektkonstitution und den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängige Sphäre ist ungebrochen. Der Zusammenhang von neuzeitlicher Naturwissenschaft mit der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, der überhaupt erst das Entstehen einer gesonderten Sphäre Wissenschaft geschuldet ist, die Historizität der modernen Erkenntnismethode, der Zusammenhang von Denkabstraktion und Vergesellschaftung bleiben tabu.

Die Naturwissenschaft soll verschont bleiben von den Zumutungen des Feminismus, des Antirassismus sowie der politischen oder gesellschaftlichen Kritik ihrer Grundlagen und ihrer Praxis. Die Naturwissenschaft ist sich einig in der Ablehnung sowohl der Kritik ihren Grundlagen als auch der ,übertriebener Reglementierungen’ des rassistischen Bildungs- und Forschungswesens (insofern ist die sokal-affair auch Symptom der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um political correctness in den USA). Selbst die Kompromittierung der modernen Wissenschaft und Technik durch ihre Schützenhilfe bei und Legitimation von Rassismus, Sexismus etc. geben keinen Anlaß zum Nachdenken. Daß die Gobineaus, Lennarts, Lyssenkos und die mit ihren Namen zusammenhängenden Theorien Kinder desselben Geistes sind, der auch das Fallgesetz und die Dampfmaschine hervorgebracht hat, bleibt blinder Fleck des gesunden, aufgeklärten NaturwissenschaftlerInnenverstandes.

Wissenschaft als Kapitalmythos

„Jeder, der glaubt, daß physikalische Gesetze bloße gesellschaftliche Konventionen seien, ist eingeladen, vom Fenster meiner Wohnung die Überschreitung dieser Grenzen zu versuchen (ich wohne im 22sten Stock).” (Alan D. Sokal)

Das zu erwartende Ergebnis dieses Fenster-Versuchs ist über jeden Zweifel erhaben – es sagt jedoch nichts darüber aus, ob sich hinter dem Herunterfallen ein physikalisches Gesetz verbirgt oder ob die Geschicke z.B. von einer Gottheit gelenkt werden. Nicht einmal die Steinzeitmenschen hätten Sokal widersprochen, doch hatten sie weder Ahnung von Galileo Galileis Fallgesetz, noch hätten sie das geringste Verständnis dafür gehabt. Für Sokal ist objektive wissenschaftliche Erkenntnis identisch mit einer allgemein menschlichen Reaktionsweise auf die Umwelt. Sokal unterscheidet nicht zwischen der bloßen Feststellung einer empirischen Erfahrung und der Formulierung von Begriffen und Gesetzen, mit denen Phänomene erklärt werden sollen. Hinter Sokals ,Fenster-Versuch’ ein physikalisches Gesetz am Wirken zu sehen, ist nur dann möglich, wenn einige subjektive Voraussetzungen erfüllt sind. Diese sind: das Akzeptieren der experimentellen Methode, das Abstraktionsvermögen, die Annahme der Existenz von allgemeingültigen Gesetzen, die Einteilung von Wirkungen in eigentliche und störende, die jede aus dem Physikunterricht kennt etc.

Die Vorstellung eines Gesetzes, das für diese Phänomene verantwortlich sein könnte, ist jedoch eine historisch junge Denkform. In der griechischen Philosophie, namentlich bei Aristoteles, finden sich die ersten Formulierungen von physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die sich deutlich von den bis dahin vorherrschenden mythischen Deutungen unterscheiden. Aristoteles zufolge besitzt jeder Körper in der Welt seinen natürlichen Ort, an dem er sich entweder befindet oder dem er zustrebt. Je weiter ein Körper von seinem natürlichen Ort entfernt ist, desto größer ist auch sein Bestreben, diesen Ort zu erreichen. Aus dieser Vorstellung folgerte Aristoteles sein Fallgesetz: die Fallgeschwindigkeit der Körper ist in gleichen Medien ihrer Masse proportional.

Fallgesetz und Abstraktion oder Niemand hat je eine Inertialbewegung wahrgenommen...

Das moderne und heute noch ,gültige’ Fallgesetz geht auf Galileo Galilei zurück: Aller Materie kommt gleichermaßen Schwere zu, alle Massen sind gleichermaßen der Gravitation unterworfen, alle Körper fallen gleich schnell, wenn störende Einflüsse wie Luftwiderstand und Reibung eliminiert werden. Das grundlegend Neue bei Galilei war die Einführung der experimentellen Methode. Er war einer der ersten, der die Natur nicht nur beobachtete, sondern gezielt befragte, der Experimente anstellte, bei denen es darum ging, bestimmte Gesetzmäßigkeiten herauszudestillieren. Kennzeichnend für Galilei war sein Zweifeln an überkommenen Wahrheiten, an Autoritäten, sein neutraler Standpunkt und die Verwendung von Instrumenten (Fernrohr). Erst Instrumente ermöglichen empirisch begründete, identische, reproduzierbare Urteile über die Natur – genau das ist aber erst Naturwissenschaft. Die instrumentelle Messung impliziert das Abstrahieren des Forschenden von seinen unmittelbaren Wahrnehmungen und Gefühlen (es kommt beispielsweise nicht darauf an, wie warm oder kalt sich ein Gegenstand anfühlt, sondern welche Temperatur er hat – und das kann nur mit einem Thermometer festgestellt werden). Der Körper des Experimentators wird zum Störfaktor. Galilei und mit ihm die modernen Wissenschaftler spalten ihren Forschergeist von ihrem Körper ab. Abstraktion vom individuellen Bedürfnis, von der Körperlichkeit des Experimentators ist Bedingung jeder instrumentellen Messung.

Auch heute noch kann man Leute treffen, die die Überzeugungskraft von physikalischen Experimenten nicht einsehen, sondern die Herstellung bestimmter reproduzierbarer Versuchsbedingungen als Taschenspielertrick empfinden. Auch SchülerInnen unserer Tage muß das Experimentieren, das Ausschließen von Fehlerquellen, die Reduktion der Beobachtungen auf das ,Wesentliche’, das Denken in Ursache und Wirkung, Kausalität und Folgerichtigkeit eingepaukt werden.

Die Frage drängt sich auf, warum erst im 16ten Jahrhundert in Oberitalien das Fallgesetz ,entdeckt’ wurde und warum nicht schon Aristoteles oder die Steinzeitmenschen auf diese Erkenntnis gestoßen sind. Warum setzte sich erst vor wenigen Jahrhunderten eine Denkweise durch, die von der unmittelbaren Erfahrung abstrahieren kann und beispielsweise physikalische Gesetze, die der Anschauung widersprechen, als wahr anerkennt? Galileis Fallgesetz (alle Körper fallen gleich schnell) widerspricht der sinnlichen Erfahrung und entstammt daher keinesfalls der Verallgemeinerung von Beobachtungen, sondern dem Versuch, eine abstrakte und allgemein gültige Gesetzmäßigkeit zu formulieren. Die Natur ist nur unter höchst künstlichen Bedingungen als gesetzmäßige erkennbar – warum unterwerfen wir uns willig der experimentellen Methode, die die Herstellung künstlicher Bedingungen zum Inhalt hat? Woher kommt die Trennung in Gesetzmäßigkeit und störende Einflüsse? Woher kommen die Möglichkeit und das Bedürfnis, den subjektiven Faktor, den individuellen Einfluß aus der Messung herauszuhalten?

Tauschabstraktion und theoretische Erkenntnis

Erst seit einigen hundert Jahren setzt sich gesetzmäßige Realitätserkenntnis als beherrschende Erkenntnisform durch. Die moderne Wissenschaft nimmt vor 2000 Jahren in Griechenland ihren Anfang und kommt dann im 16ten Jahrhundert in Oberitalien zum Durchbruch. Der objektiven Erkenntnisform liegen gesellschaftliche, nicht natürliche Ursachen zugrunde. Ihre Herausbildung zeigt einen diskontinuierlichen Verlauf, der in etwa dem Entstehungsprozeß bürgerlicher Gesellschaften entspricht. Die Form des abstrakten, logischen Denkens entsteht parallel zur Entwicklung von Warentauschbeziehungen und spiegelt in ihrer Bedeutung den Grad der Durchsetzung bürgerlicher Tauschverhältnisse. Die Fähigkeit, von der empirischen Erfahrung und den unmittelbaren Eigenschaften abzusehen, das abstrakt Allgemeine an einem Gegenstand zu erkennen, ist historisch jung und entwickelt sich parallel zur Erlernung des Tauschakts. Im Warentausch muß von der Eigenart der Gegenstände abstrahiert werden, um sie tauschen zu können. Zwei Waren, die getauscht werden, sind einander gleich nur im Bezug auf ein allgemeines Drittes, den Wert. Historisch bildet sich das Geld als allgemeine Ware, als substantieller Träger dieser Eigenschaft, heraus. Vollkommene Gleichheit stellt sich im Geld dar. Geld bedingt die Gleichsetzung aller Gegenstände in Bezug auf ein Drittes, dessen einzige Eigenschaft es ist, eben das abstrakt Gleiche darzustellen.

Die zweifache Subjektivität, also Spaltung in Einzelindividuen und gesellschaftlich Gleiche, die Voraussetzung für die Selbstwahrnehmung als ExperimentatorIn ist, tritt erst in der bürgerlichen Gesellschaft als Strukturprinzip auf. Daß das keinesfalls selbstverständlich ist, sieht man z.B. daran, daß Aristoteles die SklavInnen zu den Haustieren zählte. Er hatte keinen Begriff von dem Menschen, für ihn gab es nichts, was alle Menschen bei gleichzeitiger einzigartiger Individualität abstrakt miteinander gleich macht. (Das Unvermögen Aristoteles’, das Fallgesetz zu finden, erinnert an die von Marx bei Aristoteles’ Werttheorie ausgemachte Erkenntnisschranke: Abstrakte Arbeit als Substanz des Werts der Waren blieb Aristoteles verborgen, da die antike Gesellschaft auf der unbezahlten Arbeit der SklavInnen beruhte. Die Unterentwicklung allgemeiner Abstraktionen, des abstrakten, vernünftigen Denkens verweist auf die marginale Ausbildung einer ,vernünftigen’ Produktion, sprich: die Nichtexistenz allgemeiner bürgerlicher Verhältnisse.)

Natur als abstrakter Erkenntnisgegenstand ist analog zu Waren als abstrakte Tauschgegenstände zu sehen. Die Warenbesitzerin, die im Tausch vom Gebrauchswert der Ware abstrahiert, verhält sich analog zum Wissenschaftler im Experiment. Die Erkenntnisform der bürgerlichen Wissenschaft beruht auf der Spaltung des Individuums in abstrakt Allgemeines, Gleiches und individuell Privates, Subjektives. Genauso verhält es sich mit den Gegenständen der Erkenntnis: Sie zerfallen in sinnlichen Gebrauchswert einerseits, abstrakt Allgemeines (Tauschwert) andererseits. Daraus folgt logisch die zwiegespaltene Erkenntnisform: hier empirische Erkenntnis, materielle Vernunft, gesunder Menschenverstand, da objektive Erkenntnis, Vernunft, Wissenschaft. Wissenschaftliches Denken enthält dieselben Bestimmungen wie das Tauschdenken – anders ausgedrückt, die Logik ist das Geld des Geistes (Marx), oder das Tauschen ist das Denken (Nietzsche).

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In karoshi drei wird es vermutlich einen Übersichtsartikel mit Sammelrezension relevanter Literatur zum Thema geben, den die seit einiger Zeit bestehende „Geld und Geist”-Studiengruppe Hamburg verfassen wird. Wer Interesse in irgendeiner Form hat, möge sich an die Redaktion wenden.

Literatur

- Sokal, Alan D.: Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity. In: Social Text, 46/47, Frühjahr/Sommer 1996, S. 217-252

(www.physics.nyu.edu/faculty/Sokal/)

- Social Text, Duke University Press, erscheint vierteljährlich. (HerausgeberInnen: Stanley Aronowitz, Fredric Jameson, Tricia Rose, Andrew Ross u.a.). Die Zeitschrift Social Text, die seit 1978 erscheint, widmet sich der Analyse politischer und kultureller Fragen und veröffentlicht Artikel, die sich mit cultural studies beschäftigen. Sie ist Forum für eine Vielzahl von Debatten über Popkultur, Gender Studies, postkoloniale Theorie, Queer Politics etc.

- Sokal, Alan D.: A Physicist Experiment with Cultural Studies. In: lingua franca, Mai/Juni 1996

- Weinberg, Steven: Sokal‘s Hoax. In: New York Review of Books, 8.10.1996, auf deutsch erschienen in: Merkur Nr. 574, Januar 1997

- Boghossian, Paul: Sokals Jux und seine Lehren. Der postmoderne Schwindel – über den Niedergang wissenschaftlicher Standards und den Verlust intellektueller Verantwortung, Die Zeit, 4. Januar 1997 (ursprünglich erschienen in: Times Literary Supplement)

- Dreisigacker, Ernst: ,Die zwei Kulturen’ – sie existiern doch! In: Physikalische Blätter 53 (1997), Nr. 5

- Mühlhäuser, Felix: Anmerkungen zur ,Sokal-Affaire’. In: Physikalische Blätter 53 (1997), Nr. 5

- Lüthy, Christoph: Letzte Garde der Rationalität. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.7.1997

- Sohn-Rethel, Alfred: Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin 1990, erstmals 1976

- ders., Warenform und Denkform, Ffm. 1978

- Greiff, Bodo v.: Gesellschaftsform und Erkenntnisform – zum Zusammenhang von wissenschaftlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung, Ffm. 1976

- Müller, Rudolf W.: Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Ffm. 1977

- Ortlieb, Claus-Peter: Die nichtempirische Basis der modernen Naturwissenschaft – Vorstudie zu einer Geld und Geist-Arbeitsgruppe, www.magnet.at/krisis/diskussion/ortliebgundg.html

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