Stehen sich wirklich zwei ausgemachte Sozialcharktere leibhaftig gegenüber:der selbstzweifelnde Alltagsmensch und der selbstzufriedene Wächter der Warenwelt? Ist Selbstzufriedenheit nicht Selbstvergewisserung angesichts des Selbstzweifels, Herstellung von innerer Sicherheit im zerissenen bürgerlichen Subjekt? An welchem Punkt zweifelt der/die Selbstzufriedene, und an welchem ist sich der/die SelbstzweiflerIn sicher? Haben wir es nicht mit ein und demselben widersprüchlichen Charakter zu tun? Unbestritten wird Identität aus unterschiedlichen Quellen geschöpft: aus Beruf, Arbeit, Selbstfindung, reiner Leistung ...

Die wechselseitige Klage über den ‚Verfall‘ bzw. die ‚Borniertheit‘ des anderen täuscht über die gleiche Subjektstruktur hinweg. Niemand ist in seinem individuellen Sosein dem utopischen Raum näher als der/die andere. Einzelne Eigenschaften herauszugreifen und in bestimmten Menschengruppen zu personifizieren, droht die individuelle Konstitution als ganze zu ignorieren und damit die eine schon ein Stück jenseits, die andere noch in der Verdinglichung zu wähnen. Tritt wirklich jemand unbewußt gegen die Verdinglichungsform an, oder ist es einfach nur schwerer geworden, seine Arbeitskraft zu verkaufen? Mir scheint, als würde „verdinglichen“ und „sich verdingen“ zu sehr in eins gesetzt. Die im Text angeführte‚ „unverdinglichbare Seinsweise“, die sich „nicht mehr auf Dauer verwertbar zu machen weiß“, läßt sich allzu leicht als Konstruktion einer Anti-Kraft interpretieren. Das wäre schade, denn der Versuch, aus den Widersprüchlichkeiten der Subjektform transzendierende Momente aufzuspüren, ist ebenso kreativ wie nützlich. G. V.

„Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, auf dem Niveau meines blauen Porzellans zu leben.“

Oscar Wilde

„Nun war Entzücken rund umher entsprossen,

Wir wohnen unter ihm wie unterm Zelt,

Vom Zauberschein ist alles weit umflossen,

Von süßen Tönen klingt die weite Welt;

Wohin wir gehen sind Blumen aufgeschossen,

Mit tausend Farben prangt das grüne Feld.

Oh bleib, und laß uns Hand in Hand durcheilen,

Der vielgeliebten Kunst geweihtes Land,

Ich würde ohne Dich den Mut verlieren,

So Kunst als Leben weiter fortzuführen.“

Wackenroder/ Tieck

Wir schreiben das Jahr Eintausendneunhundertundsiebenundneunzig. Die Welt ist schön geworden, geradezu mit Schönheit überflutet, die Dinge sind bunt und glitzernd, die Menschen wohlgeformt und modisch. Schönheit ist längst vom Ideal zum Alltagszwang mutiert. Die Einzelnen jedoch genügen sich nicht mehr als schönes Ding, sie wollen Künstler sein, ob sie nun Platten auflegen, Frisuren stylen, Mode entwerfen oder Fußball spielen – ja: auch Radfahren ist eine Kunst. So konnte es nicht mehr lange dauern bis Werbung, als Avantgarde des totalen Ästhetizismus, Kunst-Nimbus zugesprochen bekam. Das reflektierende Bewußtsein wurde davon in zwei Fraktionen gespalten: während die eine auffallend langatmige Werbespots als Kunst feiert, sieht die andere die weiße Weste der Kunst durch Kommerz beschmutzt. Beide Seiten haben recht.

Als vom Rest der Gesellschaft abgetrennte Sphäre der ästhetischen Reflexion kann Kunst nicht dem Warenverkauf dienen. Sie stellt sich der tristen Warenwelt gegenüber und zeigt, was sein könnte, aber nicht ist, hebt (wohlgemerkt nur in ihrer Sphäre) gesellschaftliche Trennungen wie Hand- und Kopfarbeit, Emotion und Ratio, privat und öffentlich, Arbeit und Lust im Prozeß ihrer Entstehung und im Idealfall auch im Prozeß ihrer Rezeption auf. Demgegenüber ist Werbung nur dem Zeitgeschmack gemäß und äußerlich schön, entbehrt des überschießenden, ,ganzheitlichen’ Gehalts, ist kaum mehr als verdünnter und verkitschter Aufguß einstmaliger Kunstprodukte. ,Ästhetische Theorie’ wäre darin sich einig gewesen.

Ein anderes Bild entsteht, liest man die Geschichte von Werbung und Kunst einmal (das geht freilich nicht) unbefangen. Verfolgt man die Herausbildung der Kunst als abgehobene Sphäre, so entdeckt man, daß sie ihre Karriere im Grunde als ,Werbung’ begann. Erst im 19. Jahrhundert entfaltet sich die Illusion einer vom gesellschaftlichen Prozeß abgelösten, hehren Sphäre der Kunst. Vorher, im Prozeß ihrer Herauslösung aus dem religiösen Kultus, war Kunst weitgehend public relation medium für Fürsten, Bürgerhäuser, Handelshäuser, politische und religiöse Richtungen. Rubens oder David wären kaum auf die Idee gekommen, sich als von äußeren Ansprüchen freie und dem Kommerz fremde Künstler zu gerieren. Die Epoche der Kunst müßte auf einen sehr engen Zeitraum begrenzt werden, um einen ,atelierreinen’ Kunstbegriff zu erhalten.

Der Kunst selbst wird es immer schwerer, sich von der Werbung abzugrenzen. Indem sie ihr Duplikat und Kitsch vorwirft, dreht sie sich selbst doch immer schneller in einer Spirale der Wiederkehr des ewig Gleichen. Auch und gerade wo sie sich als politisch und reflexiv darzustellen sucht, wie im Konzept der documenta X, erweist sie sich als nostalgisch auf die Vergangenheit fixiert, versucht die Kunst der Nachkriegszeit zu historisieren. Die Krise der Gesellschaft fokussiert sich nicht zufällig in einer Krise der Kunst, die nicht mehr den Verfall der Warenwelt, sondern nur noch ihren eigenen thematisiert. Wo Benetton altlinkem Kunstanspruch gemäß die knallharte ,Realität’ auf Plakatwände wirft, während die ,echten’ Künstler sich mit dem Verpacken von Reichstagen beschäftigen, mag manche Ironie auf die verdinglichte Welt intendiert sein, wer aber hier der Rechte und wer der Falsche sei, ist kaum zu differenzieren. Wer unterscheidet den Hauptfilm vom Werbespot, wenn sie sich in ihrer glatten Ästhetik kaum mehr unterscheiden? Kunst als Widerspruch zur Werbung verliert ihren Biß, wo Modenschau und documenta dasselbe Publikum locken, wo Künstler und Designer sich nur durch Berufsausbildung oder Image unterscheiden.

Die Kunst als abgehobene Sphäre des Schönen und der Vermittlung, die der tristen und in sich gespaltenen Alltagswelt als Ideal sich gegenüberstellte, war schon in diesem Anspruch eine Absurdität. Wie soll Vermittlung als abgetrennte stattfinden, was soll ein Schönes jenseits des Menschen? Nicht zufällig entfalten sich parallel zum Prozeß ihrer konsequenten Abspaltung auch die Forderungen nach einer Rücknahme in die Lebenswelt, nach einer Ästhetisierung des Alltagslebens (etwa in der russischen Avantgarde oder im Surrealismus). In den großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erlebte dieses Ideal einer Gesellschaft als ,Gesamtkunstwerk’ seine häßliche ,Verwirklichung’. Die konsequente Ästhetisierung aller Lebensbereiche gelang jedoch erst der entfalteten Warenwelt der Nachkriegszeit. Jedes Ding ist bunt, jedes ,Subjekt’ spielt verschiedene Rollen, jede Sekunde ist voller Farbe, Musik, Duft, jedes Ich ist beschäftigt, sich selbst zu verwirklichen, gerade dies ein Anspruch der einst nur dem Kunstding und seinem Schöpfer zugedacht waren.

Freilich war Kunst nie die hehre vermittelnde Sphäre, als die sie sich dachte. Wie das Kunstding das Überbild des fetischisierten Gegenstandes, so ist der Künstler das Vorbild des sich selbst und seine Ware aus sich heraus setzenden Subjekts. Das ,Überding’ und der sich produzierende Selbstdarsteller par excellence sind die Idole der schön gewordenen Welt. Das Überlaufen von Kunst und Künstler zur Werbung ist kein unerklärliches Unglück, vielmehr Konsequenz ihrer Entwicklung. Das Sich-zum-Künstler-Erheben ist keineswegs ein Abstreifen der Verdinglichung, sondern nur der Weg in eine radikalere Form derselben.

Kunst, welche nur noch als gesellschaftliche Absurdität und Fetischsystem um sich selbst kreist, ist zur Aufhebung in die Lebenswelt reif. Innerhalb des Ding-Welt-Zusammenhangs ist dies freilich selbst nur auf fetischistische Weise möglich. So wurde der Kritik an Kunst- und Warenwelt, vor allem auch von Künstlern formuliert, der Stachel gebogen und statt des Endes sich kritisch zu freuen, wurden Werbegag und Modetrend, Designeridee und Kitschaufguß in eine Kunstsphäre erhoben, die längst nicht mehr als solche ist. Der kritische Inhalt, der einst in dem Diktum alles sei Kunst lag, degenerierte zur Veredelungsphrase für Banalitäten. Nicht Rembrandt wird als Bügelbrett benutzt, vielmehr das Designerbügelbrett zum Kunstwerk ,erhoben’.

So degenerierte die Aufhebung der Kunst in die Gesellschaft zur Rücknahme in eine Warenwelt, die sich selbst nicht mehr ernst nimmt. So korreliert die Selbstironie von Werbung und Kitsch mir einem zwanghaften Sich-ernst-Nehmen kaninchenhaft sich vermehrender Künstler, die sich trotz ihrer Masse als Elite verkaufen müssen, um die gesellschaftliche Sphärentrennung gegen den alles auflösenden ,Plebs’ zu verteidigen.

Während Werbung, Mode, Techno, Design zu Feuilleton-Schimpfworten mutieren, wird unklar, daß hier der selbstzweifelnde Alltagsmensch unbewußt gegen die selbstzufriedenen Wächter der Warenwelt antritt. Die Buch-Menschen, Kunstding-Menschen, Waren-Menschen, Arbeits-Menschen etc. führen ihre Rückzugsgefechte gegen eine diffus gewordene Massensubjektivität, die sich über nichts mehr definiert, nichts mehr ,wirklich’ will, keine Sozialcharaktere mehr hervorbringt. Es scheint eine große Erleichterung für den kategorisierenden Feuilletonisten-Verstand zu sein, wenn sich DJs und Designer zu Künstlern ernennen, wenn „Techno-Jünger zu Spaßmanagern“ mutieren, wenn sich angesichts der angeblichen Sprachlosigkeit einer ganzen ,Generation’ mit 800 Seiten anspruchsvoller Reflexion im documenta-Katalog brillieren läßt. Der brilliante Text besteht freilich bei näherer Betrachtung nur aus fleißig zusammengetragenen Zitaten.

So holt sich scheinbar die Gesellschaft ihre lustlosen Entlaufenen zurück, um ihnen neue Plätze im Verwertungsprozeß zuzuweisen. Wo aber ist Platz für die zahllosen DJs und DesignerInnen? Und wer garantiert angesichts deren labiler Psychostruktur, daß sie nicht morgen SchreinerInnen werden wollen oder gar nichts? Die bunte Dingwelt hat als eine ihrer ,Waren’ die ,unverdinglichbare’ Existenz produziert, eine Seinsweise, die sich nicht mehr auf Dauer verwertbar zu machen weiß, sich als Masse gar nicht mehr verwerten kann. Techno läßt sich nur schwer auf eine Kunstform reduzieren und wird ,mit Recht’ als solche auch nicht akzeptiert, die flexiblen Teilzeit-Verdinger taugen nicht mehr als Verwirklichungssubjekte, die Erlebnisgesellschaft hat alles ,Erleben’ zur Wahlmöglichkeit degradiert, in der sich nichts mehr finden läßt, das sich unbezweifelt als sinnvoll suggerieren ließe.

Nur der Zwang zum Schön-Sein bleibt der Zwang sich zu zerfleischen im Wettbewerb um den smartesten Körper, die coolste Visage und den individuellsten Kittel; die vereinzelten Einzelnen selbst sind das Kunstwerk, das sich zu Markte trägt; eine ,Selbstverwirklichung’, die weit grausamer ist, als es sich von den gepuderten Gesichtern ablesen läßt. Im ,Dasein’ als ,Kunstwerk’ werden die Idole der Gesellschaft dekonstruiert – wo die halb heruntergelassene Hose den ,straffen männlichen Körper’, der klobige Stiefel das ,zierliche Frauenfüßlein’ befragt, wird Mode-Schönheit tatsächlich reflexiv. Der Zwang, gesund und schön zu sein, sich als abgetrenntes Selbst, als individuelles Ich darzustellen, wird damit nicht überwunden. Die Inflationierung der Schönheit erweist sich als ,falsche’ Rücknahme der Kunst in die Alltagswelt.

Jürgen Erdmann


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