Für Theresa

... und hätte Mutter Theresa tatsächlich das Zeitliche gesegnet, so wäre in ihrer Person wohl das letzte mit sich selbst zufriedene Subjekt von Gottes grüner Erde getilgt worden. Was bliebe denn als Vorbild? Politiker? Künstler? Sportler? oder die komplett wiedererstandene Generation der Pop-Zombies? Gibt es noch Idole, denen man glaubt, was sie darstellen?
"Die Befriedigungslosigkeit dieser Stille - die nicht handeln und nichts berühren mag, um nicht die innere Harmonie aufzugeben, und mit dem Verlangen nach Realität und Absolutem, dennoch unwirklich und leer, wenn auch in sich rein bleibt - läßt die krankhafte Schönseligkeit und Sehnsüchtigkeit entstehen. Denn eine wahrhaft schöne Seele handelt und ist wirklich. Jenes Sehnen ist nur das Gefühl der Nichtigkeit des leeren und eitlen Subjekts, dem es an Kraft gebricht, dieser Eitelkeit zu entrinnen und mit substantiellem Inhalt sich erfüllen zu können."
G.W.F. Hegel

"... und sie haben ihr Leben nicht geliebt bis in den Tod"
Johannes
"Wir wissen, wen Robespierre getötet hat und wer Robespierre getötet hat. Aber kann uns jemand sagen, wer Robespierre ist?"
Marc Bloch

"Das Lachen hat keinen größeren Feind als die Emotion"
Henri Bergson

"Ich spielte keine Rolle. Ich wurde in Wirklichkeit zu dem, als der ich erschien."
Jean-Jacques Rousseau

1. Die Ironie

Die 'Krise des Subjekts' ist lange schon in aller Munde. Vom Alltagsquerulanten bis zum kulturpessimistischen kritischen Kritiker ist sich der Chor der Mahner einig, daß es die 'substantiellen' - sprich: selbstbewußten und kritischen, willenskräftigen und sozial verantwortlichen oder auch nur selbstzufriedenen - Subjekte nicht mehr gebe. Statt 'Sein' nur 'Haben-Wollen', statt innerer Werte nur schöner Schein, statt kritischen Denkens dumpfe Anpassung, statt echter Gefühle bloße Selbstdarstellung - in diesen Gegensätzen bewegt sich die landläufige Kritik seit einigen hundert Jahren.
Solange die sozialen Zusammenhänge der Menschen sich hinter ihrem Rücken herstellen, ihr 'nach außen' gerichtetes Denken und Verhalten von ihrem 'inneren' Denken und Fühlen getrennt ist, der Andere ihnen als Fremder erscheint, die Umwelt als prinzipiell feindlich, zerfällt ihr Leben in Sein und Schein, in innere Werte und 'Konsumismus', in 'echte' Gefühle und Selbstdarstellung.
Es entsteht die Illusion, daß nur, wer sich von der 'äußeren' Welt zurückzöge, sich nicht an der hohlen Geschäftigkeit der Anderen beteilige, ein 'echter', 'tiefer', 'sensibler', 'kritischer' Mensch sei, eine Illusion, die - von den Romantikern theoretisch entwickelt und praktisch erprobt - eine erstaunliche Odyssee durch die Romane des 20. Jahrhunderts macht, um sich schließlich als Volksvorurteil im Alltagsverstand zu verankern. Der 'gefühlige Außenseiter' der romantischen Literatur - der in seiner Gefühlswelt die Gegenwelt zum verdinglichten Treiben der Gesellschaft zu finden meint, mithin an ihr zerbricht - ist heute die unbewußte Mitte dessen, was die Einzelnen über sich selbst denken und an sich selbst erfahren: 'für sich' sind sie 'echte' Gefühlsmenschen - 'nach außen' berechnende Selbstdarsteller.
Diese Trennung erweist sich freilich als Konstrukt: so zeigt die 'oberflächlichste' Geschäftigkeit Gefühle, der 'tiefgründigste' Rückzug in die eigene Gefühligkeit erweist sich als Form der Darstellung - der Schein ist immer Schein von Etwas, das Sein muß immer scheinen. Grundsätzlich ist jedes moderne Subjekt in seiner Selbstdarstellung es selbst.
Dem Ideal des Gefühlsmenschen steht das Ideal des bewußt handelnden Subjekts gegenüber, welches seine 'inneren' Werte, Überzeugungen und Gefühle nach 'außen' trägt und dadurch den Widerspruch von 'echtem innerem Selbst' und äußerer Darstellung überwindet; substantiell soll ihm nicht nur sein Inneres sein, sondern auch sein gesellschaftlicher Zusammenhang; wiewohl es sich als dessen Gegensatz dünkt, gleicht es dem gefühligen Romantiker durch seine gewollte Außenseiterstellung, in der es sich vom geschäftigen Massensubjekt abzusetzen meint. Mutter Theresa oder Che Guevara wären die Idealtypen dieser Form von Subjektivität.
Die Bosheit der gesellschaftlichen Entwicklung besteht nicht in erster Linie darin, daß sie diese Idealsubjekte verschwinden läßt, sondern daß sie sie zu Darstellern unter anderen 'herabsetzt'. Mutter Theresa und Che Guevara sind 'Pop-Ikonen' wie Salvador Dalí, Madonna und die drei Tenöre. Das engagierte Subjekt ist zum Posterformat verdammt und verfällt der Kritik des gefühligen Außenseiters, der sich nunmehr als konsequentere Subjektform dünkt, da 'er' immer schon ahnte, daß der Gang an die Öffentlichkeit mit dem Verlust des Ich an die Selbstdarstellung identisch ist.
Im Schicksal der 'Stars' spiegelt sich der banale Alltag: Wo zwei Drittel der Landwirtschaft subventioniert sind, laufen Schauspieler über die Felder; wo das Produkt der Arbeit sinnlos, wenn nicht zerstörerisch ist, wird der fleißige Arbeiter zum Arbeiterdarsteller; wo es keine Kriterien der Kunst mehr gibt, weil sich das vom Leben abgetrennte Schöne als Absurdität enttarnt hat, gibt es keine echten und falschen Künstler mehr. Und - welche Ironie - selbst der scheinbar sakrosankte Gefühlsmensch wird durch den 'Blick des Anderen' zum Innerlichkeitsdarsteller.
Diese 'Verdarstellerung' der Welt ist freilich nicht als Entleerung und Verlust von Subjektivität mißzuverstehen. Was als Entqualifizierung erscheint, ist die Freisetzung eines Potentials von 'Darstellungsfähigkeit', mittels derer sich in verschiedenen sozialen Funktionen Platz finden ließe, jedoch in keiner von ihnen ein Zuhause. Was mit der Vermischung des Gegensatzes von Schein und Sein beginnt, mündet in eine Entwicklung, die den Dogmatismus der Lebensformen aufzulösen beginnt.

2. 'authentic'

Die Trennung zwischen Substanz und Akzidenz, Wesen und Erscheinung und mit ihr die Mystifikation des angeblich Substantiellen und Wesenhaften hat eine lange ideologische Tradition. Mit der Erfahrung der Austauschbarkeit, nicht nur von Waren, sondern auch von Gefühlen, entsteht die Sehnsucht nach einem 'Unhintergehbaren'. Vorgeblich Eigentliches: Leben, Wahrheit, Kreativität wird gegen vorgeblich Oberflächliches: Mode, Benehmen, Geschmack ausgespielt.
Dinge und Menschen, die sich wie Dinge behandeln, werben für sich mit Eigentlichkeitsfloskeln. Synchron mit dem postulierten Verlust 'echter' Subjektivität entdecken die realen Subjekte für sich den Substanzjargon als Mittel der Selbstdarstellung. Sie (Menschen und Jeans) wollen besonders 'echt', 'originell', 'authentisch', 'gefühlsbetont', 'kritisch' etc. sein, ein Wollen, das sich zu einem Sollen verallgemeinert und schließlich ein Müssen wird.
Diese 'wahren' Subjekte scheitern in der Welt der Austauschbarkeit und tragen etwas 'Künstliches' an sich, ob sie nun als durch Moschusduft archaisierter Macho oder als konstruierte Sekundär-Mutter auftreten. Ihre Gefühlskonstruktion ist mit Selbstzweifeln gesättigt; sie meinen, erst das mystifizierte Eigenschaftswort mache sie zu Menschen. Die mit sich selbst zufriedenen und sich ihrer Ziele sicheren Subjekte gibt es nicht mehr.
Nicht mehr? Wo gab es sie denn je? Von kulturpessimistischen Ideologen, aber genausogut vom Alltagsverstand, wird immer ein vergangenes Subjekt ins Feld geführt, das angeblich die Welt beeinflußte und selbst-bewußt durchs Leben ging. Wann hat es gelebt? Wann ist es ausgestorben? Je weiter wir seine Spur in der Vergangenheit zurückverfolgen, desto nebulöser wird es. Die Helden der Ideologen des 20. Jahrhunderts lebten im 19. Jahrhundert, die Helden der Romantiker in der Antike oder im Mittelalter, die Helden der mittelalterlichen Heldenepen in einer mythologischen Vergangenheit - und sind die für alle Nachfolger vorbildhaften Helden Homers den Griechen jemals wirklich gegenwärtig gewesen oder nur in der Phantasie? Scheitern nicht alle Siegfrieds und Odysseuse, alle Hyperions und Lucinden, alle Hamlets und Iphigenien an ihrer subjektiven Beschränktheit, ihrer Unfähigkeit zu handeln, ihrer Unfähigkeit, Subjekte im ideologischen Sinne zu sein?
Die tragische Verstrickung aller vergangenen Heldensubjekte besteht in ihrer einseitigen Borniertheit, in ihrer fanatischen Verfolgung subjektiver Zwecke, die sich den Zwecken anderer, ebenso entschlossener Subjekte entgegenstellt - ihr subjektiv-gutes Wollen verkehrt sich so in sein Gegenteil: Selbstzerstörung und Zerstörung des Anderen. Was ihre Faszination ausmacht, sind nicht die Ergebnisse ihrer Taten, sondern die Leidenschaft und Konsequenz, mit der sie ihre Ziele verfolgen. Letztlich vollendet sich der Mythos ihrer Subjektivität erst im Tod, mögen sie nun Othello, Diotima, Napoleon, Che oder Marilyn heißen.
So vielfältig die Bestimmungen der idealen Subjektivität sind, so sehr werden sie in ihrer Einzelheit verabsolutiert. Idealsubjekte können völlig frei in ihrer Entscheidung sein, darum absolut in ihren Zweifeln und unfähig zu handeln (Hamlet), sie können naiv sein und eins mit der Natur, niemals von Hintergedanken gebremst und darum wie geschaffen zum spontanen Handeln (Siegfried); sie können sich ganz an eine Handlung und ein moralisches Interessse hingeben und sich darin für die anderen opfern (Iphigenie), sie können in der leidenschaftlichen Suche nach Freiheit leben, obwohl sie sich als Gespaltene und Gescheiterte wissen (Hyperion). Was ihnen bei aller Einseitigkeit gemein bleibt, ist die Setzung ihres Selbst über ideale Ziele. Diese leidenschaftliche Verfolgung unmaterieller Zwecke jenseits der gesellschaftlichen Normen ist heute ein Massenphänomen geworden. Könnten die Idealsubjekte nicht der sogenannten 'verlorenen' Generation angehören, die sich angeblich 'sinnlos' berauscht mit Drogen und Musik, nur ihren eigenen, marginalen Zwecken folgend, jenseits der 'substantiellen' Werte und vorgeformten Gefühle, der äußeren Erfolgszwecke und der Geld- und Arbeitslogik? Besteht eine durchschnittliche 'Loveparade' nicht aus Iphigenien und Siegfrieden, die ihre Naivität und nicht ihren Intellekt der rationalisierten Welt entgegenstellen? Besteht nicht gerade in der Verweigerung von intellektueller Kritik, bewußtem Widerständlertum etc. ihre besondere Form von Subjektivität, die sich einer gewalttätigen Welt des Handelns und der Rationalität entgegenstellt?
Das Heldenideal korreliert auf vielfältige Weise mit dem, was gewöhnlich Realität genannt wird. Die 'andere' Garde besteht aus dem angeblich an die Scholle gebundenen Bauern, dem angeblich werteschaffenden Proletarier und der angeblich mit der Natur einsseienden Frau - Idole, die historisch häufig wechseln. In ihren Anfängen ist die Heldensubjektivität noch ungeschieden im 'Krieger' verkörpert; von der Antike bis ins Mittelalter erfährt dieses Ideal kaum eine Wandlung; erst später 'spalten' sich die Subjektideale und bilden ein Spektrum vom schöpferischen Unternehmer bis zum kreativen Künstler, vom empfindsamen Mädchen bis zur reinlichen Hausfrau, vom fleißigen Arbeiter bis zur schönen Schauspielerin.
Gemeinsam ist dieser Sorte Idole, daß sie an die praktischen Werte der Gesellschaft gebunden sind. Je mehr sich diese Werte verwirklichen und ihren Sinn ausschöpfen, sich damit als obsolet erweisend, desto evidenter wird die Tatsache, daß sich Subjektivität nicht mehr in der Befolgung dieser Maximen erweisen kann, mithin die Individuen nur im Gegensatz zu diesen 'Werten' ihren 'Sinn' suchen können. Mit Recht fassen die 'verlorenen' Subjekte die Werte als äußere Anforderungen auf, denen sie zu entgehen suchen. Sie versuchen weniger oder gar nicht zu arbeiten, ohne sich a priori eine ersetzende Freizeitbeschäftigung zu suchen, etwa sich sozial oder politisch zu engagieren. Sie weigern sich zu lesen, den kognitiven 'Sinn' der Gesellschaft in sich aufzunehmen, sie sind lieber stumpfsinnig als zwanghaft kreativ.
Die neue Qualität dieser Form von Subjektivität besteht in ihrer Qualitätslosigkeit: weder bestimmt sie sich einseitig über eine bestimmte Handlungsweise oder ein definiertes Ziel, noch bezieht sie sich idealisierend auf eine imaginierte Vergangenheit. Sie ist gerade in ihrer politischen Gleichgültigkeit unmittelbar gesellschaftlich. Das Verfallsdatum des idealen Subjekts scheint abgelaufen, sein moralischer und materieller Inhalt ist längst prekär; indem sich seine idealen Bestimmungen zu einer unhintergehbaren Voraussetzung des Denkens einerseits und zur Verhaltensform der Masse der Individuen andererseits verallgemeinert haben, hat sich sein Verwirklichungspotential erschöpft. Was übrig zu bleiben scheint, ist seine 'Gefühlssubstanz'.

3. Die Tiefe

Die 'Sinnlosigkeit' ergibt keinen neuen Sinn, sie zeigt nur die Erschöpfung des alten. Im zwanghaften Sich-Amüsieren-Wollen entledigt sich die längst verwirklichte Subjektivität ihrer Ernsthaftigkeit. Sie streift damit neben dem Verwirklichungszwang von Moralismen, Werten und Sinnhaftigkeiten zu guter Letzt auch den Zwang zu 'sinnhaftem', 'bedeutungsvollem' oder 'tiefem' Fühlen ab, ein Abstreifen, welches mitnichten ein Verlust von Gefühlen überhaupt, mit Sicherheit jedoch eine Verweigerung der euphemisierten Gefühligkeit bedeutet.
Letztere wird nicht zufällig mit Trauer, Leid und Schmerz identifiziert, so weitgehend, daß sich als Wort für starke Gefühle (seit dem 17. Jh.) Leidenschaft einbürgert, daß 'Gefühlstiefe' immer mit Trauer konnotiert wird - letztlich die 'Echtheit' des Subjekts sich in seinem 'unglücklichen Bewußtsein' erweist. Seit Christus für die Menschen als Mensch am Kreuz starb, wissen sie sich als Gleiche gegenüber Gott und als gottgleiche Subjekte; zugleich ist ihr Leben zum Leidensweg geworden, der nur im abstrakten Woanders des Paradieses sich in Glück-seligkeit verwandeln kann. Konstituierendes Merkmal des gegenüber seiner Natur, seinen Göttern und seinem gesellschaftlichen Kontext abstrakt gewordenen Subjekts ist sein bewußt werdendes Erleiden dieser Trennung.
Die Tatsache, daß Trauer zum entscheidenden Ausdruck für Gefühlstiefe wird, ist einer Epoche geschuldet, in welcher sich die Subjekte ihrer Gespaltenheit mit der Welt massenhaft intuitiv bewußt werden, in der Leiden nicht nur tägliche Erfahrung, sondern tägliches Fernsehthema wird - das Leiden wird reflexiv.
Das Rokoko, eine Zeit, in der ein Großteil der Kinder entweder früh starb oder unmittelbar weggegeben wurde, machte das lebenspralle 'Puttchen' zu seinem Emblem. Heute werden sterbende Kinder in sogenannten unterentwickelten Ländern zu 'Emblemen' der Gefühligkeit in den 'Metropolen', der Kindsmord dortselbst wird mit wachsender Leidenschaft durch die Medien gezerrt - das Leid wird zum Fetisch. ... und auch Mutter Theresa gewinnt ihre 'echte' Subjektivität nicht zuletzt durch ihre Verbindung mit entsetzlichem Leiden.
Bis sich dieser Leidensfetischismus etabliert und in der pervertierten Verwendung von Begriffen wie 'Trauerarbeit' kulminiert, macht das 'unglückliche Bewußtsein', das 'Wissen' um den Verlust des Paradieses, eine zwiespältige Entwicklung durch. Lange Zeit gelingt es dem Leid nicht, als Ideal zu fungieren, müssen die Helden siegreich und tapfer sein, wird selbst Jesus bevorzugt als Himmelsherrscher und Weltenrichter dargestellt. Erst ab dem 10. Jahrhundert etabliert sich langsam die Typisierung des leidenden Christus, die heute als selbstverständliches Bild erscheint; Mutter Maria entwickelt sich ab dem 13. Jahrhundert von einem emotionslosen Nicht-Subjekt zur 'Schmerzensreichen', zum demütig-trauernden Frauenideal. Die trauernd-leidende Gefühligkeit, die heute als selbstverständlicher Inhalt 'authentischer' Subjektivität im Gegensatz zur oberflächlichen Selbstdarstellung erscheint, muß selbst erst mühsam und vermittelt über die Darstellungskunst in Verhalten und Bewußtsein installiert werden. Körperhaltungen und Gesten, die heute als typisch erscheinen und spontan im Falle von Leiden und Trauer eingenommen werden, wurden zum Teil erst im 10. Jahrhundert ritualisiert, oftmals geradezu 'eingeprobt'. Handlungsanweisungen für den richtigen emotionalen Ausdruck wurden verfaßt und Quasi-Theatergruppen begründet, die als 'Schreibrüder' oder 'Klagebrüder' für die adäquate Darstellung der Trauergefühle zu sorgen hatten.
Das 'endgültige' Bild von Trauer und Leid, das der 'moderne' Mensch im Hinterkopf hat und als Selbstverständlichkeit jedem konkreten Trauer- oder Leidensfall voraussetzt, ist erst in den Jesus- und Marienbildern des späten Mittelalters gegenständlich geworden. Sich in Zeiten des Leidens und des Leidensfetischismus von diesem 'Urbild' zu entfernen, kann nur als Brutalität erscheinen und ist teils nur als Brutalität möglich.
Die Aufkündigung der Ernsthaftigkeit durch angeblich nur an Vergnügen und Konsum orientierte, im Kritikerjargon sogar 'entleerte' Individuen, ist mithin eine Verweigerung vergegenständlichter Formen des Gefühlsausdrucks. Die neue Qualität der aktuellen Form von Subjektivität liegt geradezu in ihrer 'Entleerung' und ihren fundamentalen Selbstzweifeln, welche selbst die gefühlige 'Substanz' ergreifen. Gegenüber der falschen Unmittelbarkeit und Selbstzufriedenheit der überkommenen Krieger-, Arbeiter-, Mütter-, Künstler- und Sportler- Subjekte ist die prinzipielle Reflexivität und In-Frage-Stellung der erste Schritt zur Aufhebung der bornierten Subjektform.

4. Das Drama

Das Subjekt ist 'immer schon' - sobald es als von seinem natürlichen und sozialen Objekt getrenntes existiert - sich darstellendes Subjekt. Spätestens mit Rousseau wird das Wissen um die Austauschbarkeit der Rollen, die das Individuum im gesellschaftlichen Kontext spielt, formuliert. Was mithin zweifelhaft wird, ist nicht eine (imaginierte) Substanz der Subjektivität, sondern ihre Darstellungsform, die sich gerade in dem historischen Moment, in dem sie erstmals weltweit durchgesetzt zu werden scheint, als zweifelhaft erweist.
Die kapitalistische Lebensform, deren zentrales Moment in der Austauschbarkeit der Funktionen besteht, setzt sich mit der 'Totalisierung' des Marktes zugleich als Verhaltensform durch. Was im Spätmittelalter 'eingeprobt', bei Rousseau 'reflexiv', mit den Romantikern zweifelhaft, bei Stanislavski 'wissenschaftlich' wird - das Benehmen des rationalen Subjekts in seinen Gesten, seiner Sprache und seinem Gefühlsausdruck -, entwickelt sich mit der Entfaltung der Warenform zum allgemeinen Zwang.
Die Bilder, die Tag für Tag den Globus umkreisen, lassen diesen Verhaltenszwang als Selbstverständlichkeit erscheinen. Nie waren 'Verhaltensauffällige' so klar und einfach 'dingfest' zu machen wie heute. Was dem Theater immer Anspruch war, aber niemals gelingen konnte, die 'Katharsis', die 'Besserung' des Menschen, wurde über eine lange historische Entwicklung und letztlich erst durch die Verbindung von Massenproduktion und Fernsehen auf grausame Weise verwirklicht. Wer dem Verhaltenskodex nicht zu entsprechen vermag, seine Rolle nicht findet, fällt heraus.
Die Kriterien sind hart. Das 'authentische' Subjekt spricht moderat, zeigt 'sinnvolle' Gefühle, bewegt sich gemessen, ißt ohne zu schmatzen; wenn es dies nicht tut, ist es Künstler, verfolgt einen kritischen Zweck, sucht eine andere Rolle oder hat einen 'Ausbruch', dessen adäquate Gestik und Mimik es wiederum im Fernsehen 'erfahren' kann. Doch die Darstellungsfähigkeit sinkt: Wem heute eine 'natürliche' Ausstrahlung gelingt, der wird Model.
Die Krux der Kriterien besteht darin, daß sie allen Individuen mehr oder weniger selbstverständlich, zugleich aber unerfüllbar sind. Gerade darum erscheinen Menschen wie Mutter Theresa, die eine fernsehtaugliche Darstellungsform idealer Subjektivität zustande bringen, als bewunderungswürdige Ausnahmen.
Eine merkwürdige Verdrehung herrscht in den Köpfen: Diejenigen, welche perfekt ihre Rollen verinnerlicht haben, erscheinen als 'authentische' Subjekte; diejenigen, welche - aus welchen Gründen auch immer - die überkommene Darstellungsform (wenn auch mitunter unbewußt) verweigern oder zu ihr nicht fähig sind, erscheinen als Selbstdarsteller, weil sie sich (immer an den 'Kriterien' gemessen) übertrieben, unangemessen oder 'gar nicht' (desinteressiert) verhalten. So zeigt sich der 'Verlust' des Subjekts: Einer schrumpfenden Anzahl 'authentischer' Arbeiter-, Künstler-, Hausfrauen- oder Theoretiker-Darsteller steht eine wachsende Masse von Subjekten gegenüber, die diese Rollen nicht einfach nur nicht mehr wollen, sondern nicht mehr erfüllen können, weil der Inhalt ihres Heldentums subjektiv wie objektiv fragwürdig geworden ist.
Auf diese Entwicklung gibt es freilich zwei Reaktionsweisen: zwanghafte Übersteigerung der Rolle als Maurer, Mutter oder Musikant, meist mit der ungewollten Offenbarung der Rollenhaftigkeit verbunden, oder Verweigerung des bornierten Subjektcharakters, bei Strafe des Zerfalls in verschiedene Rollen.
Dieser 'Zerfall' kann freilich auch als Möglichkeit und Produktivkraft betrachtet werden. Die 'Nicht-Subjektivität' ist an keine ausschließlichen Fähigkeiten mehr gebunden und enthält dadurch das Potential zu einem universalen Dilettantismus, wie er sich längst in der Verbreitung eines genußfreudigen Geschmäcklertums andeutet. Ästhetik entwickelt sich von einer philosophischen Prinzipienfrage zu einer Frage der Lebensqualität jenseits des Leistungsprinzips. Die Ablehnung von Arbeit, Auto, Geld und Fastfood ist einfach eine Frage des guten Geschmacks. Unfähig zur gesellschaftlichen Vermittlung wirft sich der geschmäcklerische Dilettantismus oft auf die scheinbar abseitigsten Lebensbereiche. Kein Grund zu kulturpessimistischem Gejammer. Es ist nicht die geringste Errungenschaft der 'Nicht-Subjekte', mit der Dichotomie zwischen 'bedeutenden' Lebensfragen, wie Arbeit, Familie, Politik, Theorie und Kunst (allesamt längst reif für den Müllhaufen der Geschichte) und den 'Nebenwidersprüchen', wie Kleidung, Ernährung, Musik, Vergnügen und Sex (allesamt hoffentlich unaufhebbar) aufgeräumt zu haben.
Die Logik der im Widerspruch zu ihrer Gesellschaft stehenden Subjektivität bedingt, daß jede dieser Entitäten sich wiederum zu einem 'Wesentlichen' formulieren, die Fetischform des 'Echten' und 'Wahren' annehmen muß. Es entstehen neue, allerdings von Beginn an prekäre Subjektrollen: der Modegeck, der Essen-und-Wein-Snob, die Gesundheitsfanatikerin, die DJ-Künstlerin - allesamt alte Hüte, die zu Fetischgegenständen erhoben werden. Wie auch immer. Schon auf den ersten Blick ist evident, daß keines dieser Subjekte die 'wesenhafte' Borniertheit des 20er-Jahre-Arbeiters, der 40er-Jahre-Trümmerfrau, des 68er-Politikasters oder gar Mutter Theresas erreicht.
Die Subjektform selbst ist zweifelhaft geworden.
Jürgen Erdmann