"Sie proklamieren das Recht
auf Arbeit als ein revolutionäres Prinzip. Schande über das französische Proletariat!
Sklaven nur sind einer solchen Erniedrigung fähig. 20 Jahre kapitalistischer
Zivilisation müßte man aufwenden, um einem Griechen des Altertums eine solche
Entwürdigung begreiflich zu machen!"
Paul Lafargue 1883 über die Revolution von 1848
Ein Geschrei geht um die Welt: Wir wollen Arbeit, wir wollen Arbeit! Brave ArbeiterInnen und Angestellte werden unversehens radikal. Sie stürmen Konzernzentralen, besetzen Banken, blockieren Autobahnen, zertrümmern Mannschaftswagen und werfen mit Steinen nach PolizistInnen, als sei ihnen plötzlich die untertänige Biederkeit abhanden gekommen. Doch was so radikal eingeklagt wird, ist mehr als kläglich: Fern davon, das bedrohliche Gespenst zu sein, das einst die KapitalistInnen in Angst und Schrecken versetzte, flehen sie ihren Klassenfeind um Arbeit an. Beutet uns aus, erniedrigt uns, zerstört unsere Gesundheit, macht mit uns, was ihr wollt, aber gebt uns um Himmels willen Arbeit, lautet die message der modernen SklavInnen. Daß sich bei so viel Erniedrigung der Rest der Gesellschaft nicht kollektiv übergibt, sondern vielmehr Beifall spendet, läßt sich nur verstehen, wenn man die Durchsetzungsgeschichte dieser merkwürdigen Universalplage betrachtet, die sich derzeit so viele Menschen an den Hals wünschen. Ihre Geschichte liest sich als endlose Aneinanderreihung von Grausamkeiten, Verstümmelungen, geistiger und materieller Armut, Disziplinierung, langsamer und schneller Tode, wovon der plötzliche Arbeitstod und Herzinfarkt nur mehr die originellere moderne Variante darstellen. Es verwundert daher kaum, daß ihr Begriff etymologisch ausschließlich auf Negativbestimmungen verweist: Arbeit von ,arbejioiz', im Germanischen die Mühsal, wiederum hergeleitet von dem germanischen Verb ,arbejo', soll heißen "bin verwaistes und daher aus Not zu harter Tätigkeit gezwungenes Kind." Die Arbeit im Lateinischen, ,laborare', gleichbedeutend mit Mühe, Anstrengung, oder "das Wanken unter einer Last". Und noch im Neuhochdeutschen drückt man im zusammengesetzten Begriff ,Mordsarbeit' den Sachverhalt recht treffend aus. (1) Die Sklaverei wurde verboten, Mord und Folter sind geächtet und werden verfolgt; man bekämpft die Armut - aber wie steht es mit der Arbeit? Es ist doch seltsam, daß sie, die häufigste unnatürliche Krankheits- und Todesursache bis heute ganz und gar frei ausgeht. Sie scheint in und um uns so omnipräsent geworden zu sein, daß sie als unhinterfragbares Naturphänomen wahrgenommen wird, das sich genauso wenig beseitigen läßt wie ein Herbststurm oder eine todbringende Dürre. Für die schaffenskräftigen Bürger alleinige Existenzberechtigung und Daseinsform schlechthin, ist sie für das betende Volk darüber hinaus göttliche Bestimmung.
Produktionsbereiche, in denen die Unterjochten zu dauerhaften und einseitigen
Tätigkeiten in Bergwerken, bei der Erbauung von Kultstätten, an den Rudern der
Galeeren und ähnlichem verdammt wurden. Doch der Großteil der Unfreien, zumeist
Haus- und LandsklavInnen, betätigte sich in der Regel - nicht anders als die Freien
- auf vielfältigste Art und Weise und pflegte seine oder die Bräuche seiner Herrschaften.
Soweit in der Sklaverei und zum Zweck militärischer ,Massenproduktion' Tätigkeiten
entstanden, die ihrer Form nach die Arbeit schon antizipierten, unterlagen sie
der allgemeinen Verachtung und galten als sklavisch, erniedrigend, leidvoll und
geistlos. Im letzten Jahrhundert vor Christus besang der griechische Dichter Antiparos
deshalb begeistert die Erfindung der Wassermühle, die die Mädchen vom Getreidemahlen
befreite: "Laßt uns leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben arbeitslos
(2) uns freu'n, welche die Göttin uns schenkt." (3)
Bevor die feudalistischen Hindernisse mit Waffengewalt aus dem Weg geräumt werden konnten, mußten all die leidvollen Tätigkeiten vom negativen Image befreit und im Gegenzug Verschwendungssucht, unproduktiver Müßiggang und simple Geldabpressung verdammt werden. Gott sei's gedankt, ein stimmgewaltiger bärtiger Mann namens Luther trat auf die Geschichtsbühne und führte diesen ideologischen Kampf an. Der Protestantismus war geboren und mit ihm die Religion der gottgefälligen ,arbejioiz', der "Mühsal, Not, die man leidet oder freiwillig übernimmt". Nur wer selber leidet (arbeitet), sollte Gottes Segen zu spüren bekommen und ein Recht auf Nahrung haben, so das lutherische Credo für die künftige bürgerliche Arbeitswelt. Das Werterad drehte sich, drückte Geist, Frohsinn, Verschwendung und Muße in den Staub und ,adelte' die aufkommende Arbeit. Angepaßter Lebensrhythmus wandelte sich allmählich zu kostbarer Arbeitszeit und Untätigkeit zu verschwendeter Zeit. "Der Protestantismus, diese den neuen Handels- und Industriebedürfnissen der Bourgeoisie angepaßte Form der Kirche, kümmert sich wenig um die Erholung des Volkes; er entthronte die Heiligen im Himmel, um ihre Feste auf Erden abschaffen zu können", pointierte der erklärte Arbeitsfeind Paul Lafargue diesen Sachverhalt (ebenda, S. 33).
Protestantismus in Gestalt der sozialistischen Ideologie ins Feld. Opfer
der kollektiven Vergeßlichkeit, konnte sie sich ein Leben jenseits der Arbeit
nicht vorstellen. Folgerichtig sollten lediglich die KapitalistInnen abgeschafft
werden, um der Arbeit den Ausbeutungscharakter zu nehmen und sie weniger leidvoll
gestalten zu können. Wieder fanden sich Geist und Intellekt, Muße und Schlendrian
an den Pranger gestellt und jede unproduktive Arbeit geächtet. Es verwundert deshalb
nicht, daß sich die Arbeiterschaft, diese "selbst nur besondere Existenzweise
des Kapitals" (Marx, MEW 23, S. 353), samt ihrer geistigen Führung, bevorzugt
auf jene Aussagen von Marx und Engels beriefen, die ihre arbeitsethischen Vorstellungen
untermauerten. Nur wenige wollten oder konnten die Marxsche Ambivalenz hinsichtlich
der Kategorie der Arbeit erkennen. Auch wenn er von der Arbeit als "ewiger Naturnotwendigkeit"
sprach, so war doch zumindest klar, daß er damit nicht die Lohnarbeit meinte.
Diese wollte er eindeutig abgeschafft sehen:
"Es ist eins der größten Mißverständnisse, von freier, gesellschaftlicher
menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ,Arbeit'
ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, von Privateigentum
bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums
wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebug der Arbeit gefaßt
wird". (5)
Die unermüdlich voranschreitende Arbeitsverwertung brachte bald mächtige Industrienationen hervor, hinter denen immer mehr Regionen der Erde zurückblieben und zu kolonialen Plünderungsreservoiren herabgedrückt wurden. Gewaltige Revolutionen erschütterten den Globus und konstituierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialistische Staaten, die fortan danach trachteten, Anschluß an die entfesselte und unermeßliche Reichtumsproduktion der kapitalistischen Mächte zu bekommen. Eine nachholende, beschleunigte Akkumulation wurde in Gang gebracht, die der ursprünglichen hinsichtlich Grausamkeit bei der Durchsetzung von Lohnarbeit und Zeitdisziplin in nur wenigem nachstand. Abermillionen Menschen wurden aus der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft herausgerissen, um als LohnarbeiterInnen die aus dem Boden gestampften Fabriken zu alimentieren. "Der russische Mensch ist ein schlechter Arbeiter im Vergleich mit den fortgeschrittenen Nationen (...). Arbeiten lernen - diese Aufgabe muß die Sowjetmacht dem Volk in ihrem ganzen Umfang stellen", so der verzweifelte Lenin, der angesichts der drückenden Notwendigkeiten und dem Zustand seiner real existierenden Völkerschaften allmählich seine Hoffnungen auf eine kommunistische Zukunft dahinschwinden sah. Auch diesmal bedurfte es einer Religion, um dem Ganzen Sinn und Zukunftsaussicht zu geben. Wie einst Luther, setzte Stalin eine Religion der Arbeit in die Welt, die als ,Marxismus-Leninismus' in die Geschichte eingehen und von zahllosen "Zuspätgekommenen" übernommen werden sollte.
gleißender Sonne oder im Haushalt,
nahezu überall dominieren ihre Maßstäbe. Ehrgeiz, Ausdauer, Selbstdisziplinierung,
Motorikrationalisierung, Hetze, Leistungswahn und Äquivalenzdenken steuern selbst
die intimsten Lebensäußerungen. "Gib mir deinen Saft, ich geb dir meinen..." besingen
die ,Fantastischen Vier' den modernen Äquivalenz- und Leistungssex. Statt Muße
herrscht Ruhe als Mittel der Regeneration, und Faulheit stellt nur die unproduktive
Kehrseite der Arbeit dar. Und was macht der inzwischen vielbeschworene bewußte
Genußmensch, der Hedonist? Er wähnt sich frei und individuell, weil er die Markt-
und Arbeitszwänge "genüßlicher" als seine Konkurrenten exekutiert. Der moderne
Arbeitsmensch ist einsichtig und treibt sich zumeist selber an. Peitsche und radikale
Arbeitsideologien haben ausgedient. Am meisten stört ihn, so die Umfragen, wenn
andere weniger arbeiten als er und sollten ein Kollege oder eine Kollegin morgens
zu spät zur Arbeit erscheinen, schallt ihnen, zumindest in Deutschland, unüberhörbar
das kollektiv ausgerülpste "Mahlzeit!" entgegen.
Dabei sind die Bedingungen für eine fundamentale Kritik der Arbeit so günstig wie noch nie, denn der Kapitalismus hat definitiv mit seiner Selbstuntergrabung begonnen, indem er, von der mikroelektronischen Revolution angetrieben, sowohl die wertproduktive abstrakte wie die konkrete Arbeit in all ihren Varianten sukzessive abschafft. Die Arbeit hat ihre ,zivilisatorische Mission' erfüllt, insofern sie mit ihrer ungeheuren technischen und geistigen Produktivkraft den Grundstein für die Möglichkeit einer müßigen, kreativen, in selbstgewähltem Rhythmus vollzogenen und von allen bewußt geplanten, direkt gesellschaftlichen Lebensgestaltung gelegt hat. In dieser Hinsicht und nur in dieser, kann sie ex post als ein historisch notwendiges und progressives Durchgangsstadium gelten. (6)
Da die in Gang gesetzte kapitalistische
Dynamik immer nur weiter in eine moderne Barbarei treibt und keineswegs in die
von uns gewünschte, mögliche sonnige Zukunft, geht es nun mehr darum, das begonnene
Werk auf eigene Weise zu vollenden, indem diese destruktive Form überwunden
wird. Das kann nur heißen, die Arbeit radikal zu kritisieren und den durch Arbeit-
und Tauschökonomie versperrten Zugang zu den stofflichen und geistigen Potenzen
praktisch freizumachen. Soll es nicht in die Barbarei gehen, müssen der Kampf
um die Definition einer "revolutionären Modernität" (7) und deren energische Durchsetzung auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Wird in der nächsten Nummer fortgesetzt. Gaston Valdivia
(1) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 1995, S. 55 ff.
(2) Die Verwendung der Begriffe "arbeitslos" oder "Arbeit" in Texten antiker
Dichter und Denker beruht im Grunde auf falschen Übersetzungen bzw. Interpretationen,
die auf einer typisch bürgerlichen Übertragung des Arbeitsbegriffs in antike
Sprachen und Lebenswelten beruht.
(3) Antiparos, zit. in Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, Frankfurt/M.
1966, Seite 32.
(4) Die "Zeit" ist, salopp formuliert, eine "Erfindung" der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft.
Sie kommt mit der Tauschökonomie in die Welt und universallisiert sich mit der
kapitalistischen Lohnarbeit. Einerseits Grundlage des Wertes, Abstraktion von
konkreter Arbeit auf Zeit, wird sie andererseits erst mit der Expansion des
Wertes durch Lohnarbeit zu einer "gesellschaftlichen Realkategorie". Dialektisch:
Zugleich Grundlage und Resultat des prozessierenden Kapitalverhältnisses. Zum
Thema Zeitvergesellschaftung verweise ich auf meinen Aufsatz "'Zeit' ist Geld
und Geld ist ,Zeit'; Von der Produktion der ,Zeit' zu ihrer marktwirtschaftlichen
Dekonstruktion" in Krisis, Nr. 19.
(5) Karl Marx: Über Friedrich Liszt, Berlin 1972, S. 24.
(6) Hierin ist weder eine moralische Bewertung anderer menschlicher Gemeinschaften
noch die Annahme impliziert, die historisch entstandene ,Zivilisation' samt
ihrer ,Vernuft' hätte universelle Geltung oder sollte sie haben.
(7) Der Begriff ist als Provisorium gedacht und dient zunächst der Distanzierung
von den bisher üblichen sozialistischen, kommunistischen, modern bürgerlichen
oder naturalwirtschaftlichen Zukunftsvisionen.