HSB-Veranstaltungen Winter 2003/2004

Frankreich im Herbst
Bernd Beier (Jungle World, Berlin)

Frankreich ist reformierbar - im Sinne der Krisenlogik. Das meinen die Unternehmer und der französische Staat. Sie ernten heftigen Widerstand: Streiks, Demonstrationen, Besetzungen zogen sich durch das gesamte Frühjahr. Kaum hatte sich die Regierung in die Sommerpause gerettet, platzten reihenweise kulturelle Großereignisse wie das Festival in Avignon. Denn auch Prekäre können streiken.

Was als Defensivkampf von Lehrern und Beschäftigten im öffentlichen Dienst begann, mündete auf den Straßen in den massenhaften Ruf nach Generalstreik. Doch der von vielen erwünschten Radikalisierung der Kampfform entsprach keine Radikalisierung des Inhaltes der Kämpfe: Sie verblieben weitgehend im gewerkschaftlichen Rahmen. Schnell wurde jedoch die generelle Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse von zunächst kleinen Gruppen thematisiert. Im Kontext des Streiks der Lehrer und punktueller, gewerkschaftlich kontrollierter Streiks im öffentlichen Dienst entwickelte sich eine Streik- und Besetzungsbewegung prekärer Kulturarbeiter, der so genannten intermittents du spectacle. In schnell größer werdenden Basisversammlungen organisiert, versuchte diese Bewegung sich nicht auf den kulturellen Bereich zu beschränken, sondern auch andere Prekäre einzubeziehen. Und in Ansätzen wird die kulturelle Arbeit selbst Objekt der Kritik.

Diese Bewegung der Prekären setzte die soziale Agitation über die Sommermonate fort. Ende August trafen dann viele Aktivisten mit der globalisierungskritischen Bewegung auf dem Larzac zusammen: eine Viertelmillion Menschen versammelte sich dort. José Bové versprach einen "brennenden Herbst". Und die Hoffnung verbreitete sich, die Mobilisierung gegen die WTO werde einer Wiederaufnahme der Streiks über den Bereich der (Kultur)Prekären hinaus befördern. Statt dessen droht eine Regression: Leicht kann die Verherrlichung der vom Staat subventionierten, "alternativen" Land- oder Kulturarbeit gegen die Streiks des städtischen Neoproletariats in Anschlag gebracht werden. Bernd Beier hat im Frühsommer die Auseinandersetzungen in Paris beobachtet.

Donnerstag, 09. Oktober 2003 19.30
Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12 (S-Bahn Reeperbahn)
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Therapie als Strafe
Die Pathologisierung von Drogengebrauchern und die medizinische Substitutionsbehandlung der Autonomie
ReferentInnen der Gruppe Ratio Rausch Revolution
Statt die Drogenverbote, deren Folgen für die Betroffenen ruinös sind, einfach abzuschaffen, geht man seit den 80ern "neue Wege in der Drogenpolitik". Das Ziel blieb gegenüber der Repression konservativen Zuschnitts gleich: die Straßen sauber und die (ausländischen) Händler draußen zu halten; und die Erleichterung, die Methadonvergabe und Spritzentausch für die von den Bedingungen illegalen Konsums ausgezehrten Junkies bewirkten, sind durch die Modernisierung der Kontrolle teuer erkauft. Das Medikament, das als Substitut fürs gewählte Genussmittel verschrieben wird, verheißt die dauerhafte Bindung an den überwachenden Medizinbetrieb. Während die Justiz die Drogengebraucher noch insofern als Subjekte anerkennen muss, als sie diese für ihren Willen zur Verantwortung zieht, kennt die therapeutische (Zwangs-) Betreuung von Abhängigen nur noch unmündige Objekte, die nichts für ihren Status können und alleine auch nichts dagegen. Zur Einsicht, der eigene Lebensstil sei nichts als krank, braucht es daher weiterhin den altbewährten Knüppel.

In der Verschränkung von Medizin und Polizei, Justiz und Sozialhygiene kündigt sich ein neuer Aggregatzustand der Repression an, der Schule machen wird. Drastisch wurde das deutlich im Falle Achidi Johns, den man zum Brechen zwang und anschließend unter ärztlicher Aufsicht verrecken ließ: Klappe zu, Dealer tot, und niemanden hat's gestört. Doch nicht nur als Absonderung der Unnormalen wird die Pathologisierung der Drogengebraucher vom Bürger erlebt, als Ansporn, sich nicht wie jene durch Eigensinn in den Ruin führen zu lassen. Dass der Einzelne alleine eh zu schwach ist, sich der Versuchungen, ob Dealer oder Dickmacher, zu erwehren, wird in der Welt der 1000 Süchte, die Selbsthilfegruppen sogar für zwanghafte Überraschungseikonsumenten anbietet, als frohe Botschaft vernommen. Nicht Autonomie und Würde, unverwertbare Überbleibsel vergangener Zeiten, sind gefragt, um dem hilflosen Ich den goldenen Mittelweg zu weisen, sondern autoritäre Herrschaft.

Kein Wunder also, dass der Schwarz-Schill-Senat, dem Junkies zu drangsalieren ein Herzensanliegen ist, zugleich mit ärztlicher Methadon- und gar Heroinabgabe gut leben kann. Als Dorn im Auge gelten ihm und allen anderen, die die Atmosphäre von Polizeistaat in vollen Zügen genießen wollen, solche Institutionen, die mit dem Anspruch von akzeptierender Drogenarbeit ernst zu machen trachten. Aus gegebenem Anlass findet daher die Diskussion in den Räumlichkeiten des Fixstern statt, der zum Jahresende schließen soll .

Donnerstag, 6. November 2003, 19.30 Uhr
Fixstern, Schulterblatt 75 (S-Bahn Sternschanze)
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Krankheit und Kriminalität
Die Ärzte- und Medizinkritik der kritischen Theorie
Carl Wiemer

Es gibt Gedanken und Theorien, die die Gesundheit voraussetzen, während andere - unter ihnen kritische Theorie - dem Schmerz entstammen. "Wo es weh tut, liegt eine gesellschaftliche Erkenntnis verborgen" - auf diesen Nenner läßt sich die Ärzte- und Medizinkritik der kritischen Theorie bringen. Am Beispiel des Medizinbetriebs diagnostizieren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Transformation nachliberaler Herrschaft in ein Regime verbrecherischer Banden und veranschaulichen die Brandmale dieser Herrschaft, die in den Ärzten ihre zuverlässigen Agenten hat, an den Verheerungen, die diese in den Krankenanstalten anrichtet. Dabei geht es nicht um Kritik an den einzelnen Mißständen - wiewohl der Zwangscharakter des hiesigen Gesundheitssystems den Straftatbestand der Erpressung erfüllt -, sondern um die Anklage eines zum Syndikat mutierten Berufsstandes. Die Medizin teilt heute das Schicksal der Aufklärung. Es ist, als seien die technischen und wissenschaftlichen Fortschritte mit moralischer Verwahrlosung erkauft, als sei die Humanität ärztlicher Praxis im Zuge ihres materiellen Fortschritts verschwunden.

Max Horkheimer starb am 7. Juli 1973 bei einer die gesamten Körperfunktionen umfassenden Vorsorgeuntersuchung, die über seine Kräfte ging. In seiner Ärzte- und Medizinkritik hat er seinen Tod auf unheimliche Weise vorweggenommen.

Donnerstag, 11. Dezember 2003, 19.30 Uhr
Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12 (S-Bahn Reeperbahn)
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"Reformislamismus" und "Kritischer Dialog"
Die islamistische Diktatur im Iran und ihre deutsch-europäischen Partner
Wahied Wahdat-Hagh

Eine der großen Fiktionen der khomeinistischen Diktatur in Iran ist die politische Annahme, dass die iranische Verfassung demokratische und islamistische Elemente beinhaltet. Denn darauf bauen sich seit über 25 Jahren die Hoffnungen auf eine Reformierbarkeit des politischen Systems. Dies dient stets der politischen Legitimation der Fortsetzung von Wirtschaftsbeziehungen mit dem Iran. Tatsächlich wurde die Verfassung des Iran zunächst von säkularen Juristen formuliert. Die Vorlage wurde jedoch vom Revolutionsrat des Iran so stark verändert, dass neue totalitäre Organe alle demokratischen Elemente eliminiert haben. Die Fiktion der Demokratisierung des Khomeinismus ist jedoch geblieben. Die Bundesrepublik nahm sehr früh diplomatische Beziehungen mit dem Gottesstaat auf. Schon 1982, als die erste große Hinrichtungswelle im Iran lief, war sie ein wichtiger Handelspartner für den Iran. Staatssekretär von Würzen reiste im September 1983 nach Teheran, um ein Memorandum über wirtschaftliche Zusammenarbeit zu unterzeichnen. Die deutsche Außenpolitik geht keineswegs von einer "zweiten Revolution" oder eine "Implosion" des politischen Systems aus. Die Ideologie der deutschen Außenpolitik hält die Fiktion der demokratischen Reformierbarkeit des islamistischen Herrschaftssystems aufrecht, verfolgt aber ganz andere Interessen. Der Iran verfügt nach Russland über die weltweit zweitgrößten Erdgasreserven. Um Iran als wichtigen Lieferanten für Erdgas zu gewinnen, sind langfristige deutsche Investitionen in die Infrastruktur des Iran vorgesehen. Grundlage für das deutsche Konstrukt eines "Reformislamismus" ist die Verabsolutierung der Spaltung der iranischen Herrscherkaste in sogenannte Reformer und Konservative. Der kritische Dialog könnte jedoch an einem Scheideweg angekommen sein: Denn Iran ist gegenwärtig nicht bereit, das Zusatzprotokoll der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zu unterschreiben. Möglicherweise wird die Gefahr der khomeinistischen Atombombe den kritischen Punkt erreichen, der gar den kritischen Dialog kritisch machen wird.

Donnerstag, 15. Januar 2004, 19.30 Uhr
Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12 (S-Bahn Reeperbahn)
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Letztes Update: 23.9.2003