Weder Ackerbau noch Heilsgeschichte

Kritische Theorie und Zionismus, 2. Teil: Walter Benjamin


Unter den Repräsentanten der Kritischen Theorie nimmt Walter Benjamin, was den Zionismus betrifft, eine besondere Rolle ein. Dafür bürgen schon die aktiven Zionisten im nächsten Umfeld – natürlich Gershom Scholem, der langjährige Freund, der 1923 nach Palästina emigrierte, aber auch der Schwiegervater, Leon Kellner, der einer der engsten Mitarbeiter Theodor Herzls gewesen war.

Benjamins persönliche Haltung ist dabei schnell referiert. Alle an ihn ergangenen Aufforderungen, sich für den Aufbau einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu engagieren, beschied er sein Leben lang abschlägig; gegen den von ihm so genannten “Ackerbauzionismus” hielt er schon in Jugendbriefen die urbanere Figur des “Literatenjuden” hoch. Ebenso aber hat sich Benjamin Zeit seines Lebens nie in explizite Opposition zum Zionismus bringen lassen. Die anderen, das waren immer die Deutschen, von denen er gerne in der dritten Person sprach, und insbesondere deren Bourgeoisie. Gerade seine Wendung zum Kommunismus, weg von einem theologisch motivierten Anarchismus, wollte Benjamin um keinen Preis als Abwendung vom Judentum verstanden wissen. Scholem gegenüber, der mißtrauisch blieb, erklärte er: “’Gerechte’, radikale Politik, die eben darum nichts als Politik sein will, wird immer für das Judentum wirken und immer das Judentum für sich wirksam finden.” Einen etwaigen Kampf, der sich – „disparat (niemals feindlich)“ zum Kommunismus – „vom Judentum aus organisiert“, ließ Benjamin gar als einzig denkbare Alternative zu diesem gelten; wenn auch rein hypothetisch.

Tatsächlich blieb in Benjamins Marxismus stets ein jüdisches Hintertürchen offen. Mehrmals trug er sich mit dem Gedanken, als Kommentator heiliger Texte nach Palästina zu emigrieren; nicht zufällig am ernsthaftesten in den Jahren um 1927, in die auch seine Hinwendung zum “radikalen Kommunismus” fiel. Daß es nicht dazu kam, weil er, vor der Aufnahme des Hebräisch-Unterrichts, noch seine Passagen-Arbeit fertig stellen wollte (deren Dauer Benjamin, sich seines “pathologischen Zögerns” sehr wohl bewußt, auch damals schon hatte ahnen müssen), mag auf den ersten Blick symbolisch anmuten: als Entscheidung für den Marxismus, gegen den Zionismus. Asja Lacis, Benjamins geliebte lettische Kommunistin, hat das in ihren Memoiren, mit nicht geringer Genugtuung, so interpretiert. (In Wirklichkeit spielte noch ein ganz anderes Motiv hinein. Der Brief, der Scholem den endgültigen Aufschub der Auswanderungspläne ankündigte, um zunächst einmal der erste unter den deutschen Literaturkritikern zu werden, ist bizarrerweise vollständig auf Französisch verfaßt. Das Land, das ihm sogar die Sprache verdorben hatte, wollte er nicht verlassen, ohne es zuvor in die Knie gezwungen zu haben.)

So wenig aber die “Passagen” abgeschlossen wurden, so wenig hatte Benjamin je die palästinensische Option ganz verworfen. Konkret wurde sie noch einmal 1938/39, als er im Heiligen Land nach einer Möglichkeit suchte, von materialistischen Verpflichtungen unbeeinträchtigt über Kafka zu arbeiten; einen Autor, nebenbei bemerkt, der ihm von Scholem nachdrücklich als Zionist vorgestellt worden war. Hätte die Emigration 1927 den Bruch mit den deutschen Verhältnisse besiegeln sollen, der sich dann im Zeichen des Marxismus vollzog, so drückte sich in den entsprechenden Plänen zehn Jahre später gerade die Desillusionierung über die kommunistische Weltbewegung aus. Im Januar 1940, nach dem Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts, schrieb Benjamin an Scholem, wo nun der Grund ihrer „feurigen Disputationen“ – eben die Solidarität zur KP – entfallen wäre, sei wohl der Moment gekommen, „einander spiritualiter in die Arme zu fallen“.

Nur „spiritualiter“ freilich; „ein Weltmeer zwischen sich zu haben“ empfand Benjamin letztlich doch als “schicklich”. So entstanden stattdessen die berühmten Geschichtsphilosophischen Thesen, deren erstes Rätselbild es gezielt offen ließ, ob es wirklich der historische Materialismus ist, der die Theologie, wie es dort heißt, in seinen Dienst nimmt – oder ob nicht vielmehr die Theologie, dieser häßliche Zwerg im Bauch der historisch-materialistischen Maschine, sich bloß eine respektable Maske gesucht hat.

Linke, die es liebten, sich mit Benjamin als dem authentischen, von Horkheimer und Adorno geknebelten Marxisten zu identifzieren, hielten dessen Verschränkung revolutionärer Theorie mit jüdischen Theologumena in der Regel für einen persönlichen Spleen, über den man besser hinwegsieht. Für ihre jüngste Strömung jedoch, der Israel, nach Joachim Bruhns Worten, als „die erste Abschlagszahlung auf den Kommunismus“ gilt, konnte er just dadurch zum Gewährsmann avancieren; zu nahe liegt es, in der lebensgeschichtlichen Nähe zum Zionismus den Fingerzeig zu erblicken, was es mit dem messianischen Eingedenken auf sich hat. In ihrem programmatischen Aufsatz „Der Kommunismus und Israel” macht die ISF wenig Federlesens: „Die Zionisten handeln, als hätten sie sich der Bewahrheitung der 'Geschichtsphilosophischen Thesen' eines Walter Benjamin verschrieben“; im Angesicht des „historischen Zusammenhangs der Katastrophen“ suchten sie „Rache für die Toten“.

Gerhard Scheits große geschichtsphilosophische Kritik des Opfers, „Suicide Attack“, nimmt dieses Diktum an zentraler Stelle wieder auf. In einem Exkurs, der über die Verhältnisse, die nur mörderisch zu affirmieren sind, hinausweist, wird dort die rigorose Staatsferne des Benjaminschen und Scholemschen Messianismus aufgerufen, um die Wahlverwandschaft zionistischer Praxis mit kritischer Theorie zu bezeugen: Wie nämlich die jüdischen Theologie sich dem christlichen und islamischen „Sterben üben“, der Verklärung des Märtyrertums verweigert habe, so bestehe die Raison der Zionisten darin, das Überleben derer zu sichern, die traditionell dem Götzen nationaler Gemeinschaft geopfert werden.

Der Zionismus allerdings, dem Benjamins Affinität galt, war nie der hegemoniale; es war der Zionismus Scholems. Und dieser schied strikt Souveränität von Erlösung: „Der nationale Begriff des Judentums führt nach Palästina, der jüdische nach Zion”, heißt es apodiktisch in den Benjamin gewidmeten „95 Thesen über Judentum und Zionismus“. Was Scholem anstrebte, war dabei weder ganz säkular noch ganz orthodox – sondern die Erdung religiöser Energien in einer durchaus profanen Wiedergeburt des Judentums. Gerade das brachte ihn in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu allen Bestrebungen, das Irdische zu vergöttern: den Staat Israel auf messianischen Fundamenten zu errichten. Wenn Scheit in "Suicide Attack" Scholem dahingehend paraphrasiert, der Zionismus dürfe sich dem Messianismus "nicht vollends" verschreiben, so mildert er dessen Intransigenz in der Sache ungerechtfertigt ab; denn Scholem bestreitet allerdings kategorisch, "daß der Zionismus das Recht hat, religiöse Begriffe für politische Zwecke zu verwenden. Das zionistische Ideal ist eine Sache und das messianische Ideal eine andere, die beiden haben nichts miteinander gemeinsam außer der aufgeblasenen Phraseologie der Massenveranstaltungen", wie er in einem hebräischen Aufsatz von 1929 schrieb.

Im Briefwechsel von 1931 spielte Benjamin auf diesen Konflikt an, wenn er Scholem konzediert, daß es womöglich "in Palästina noch ganz andere Methoden eindeutiger Differenzierung von der Bourgeoisie" gebe als bloß, wie in Deutschland, die kommunistische. Nicht zufällig, daß dabei Scholems “Stellung in der Araberfrage” – die frühzeitig auf Verständigung und Ausgleich zielte – das Schibboleth bildet. Nicht aufgrund irgendwelcher Illusionen über die Politik der arabischen Notabeln; dafür waren beide, Benjamin durch Scholems ausführliche Briefe, zu gut informiert, was etwa Ursprung und Verlauf jenes palästinensischen Aufstands betrifft, der 1936 unter Führung des faschistischen Muftis von Jerusalem ausbrach. Wohl aber, weil in der vorherrschenden zionistischen Behandlung dieser Frage (und nicht nur von Seiten der Revisionisten um Jabotinsky) die – man könnte sagen: kontermessianische – Tendenz am sichtbarsten sich ausdrückte, Politisches und Religiöses illegitim zu verquicken: das Jüngste Gericht über die Feinde Israels eigenhändig zu vollstrecken. Vom Messias, dem das vorbehalten ist, heißt es hingegen, nach Benjamins Überlieferung, „daß er die Welt nicht mit Gewalt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes zurechtstellen werde.“

So hat auch jener stets, ganz im Sinne der jüdischen Lehre, auf der von Scholem urgierten Trennung beharrt. Anders als das Christentum faßt das Judentum zwar, wie die einschlägigen Sätze Scholems lauten, die Erlösung “als einen Vorgang auf, welcher sich in der Öffentlichkeit, auf dem Schauplatz der Geschichte vollzieht.” Nur gehört es zu deren Wesen (und das wird häufig nicht mitreferiert), sich jeder vorbereitenden geschichtlichen Aktion zu entziehen. “Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben”, lautet daher das zentrale Anliegen von Benjamins “Theologisch-politischem Fragment”, das – von Scholem auf 1921, von Adorno auf 1938 datiert – auf einer einzigen, unübertrefflich dichten Seite ein Lebenswerk umschließt. “Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen; und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden.”

Daß der Messias sich nicht zwingen läßt, legitimiert erst dessen Idee als unmittelbar revolutionäre. Der wahrhaft befreit Zustand wäre schließlich einer, der mehr wäre als redlich verdient; “Erlösung ist keine Prämie”, wie es in Benjamins “Kafka”-Aufsatz heißt. Am wenigsten ist solcher Messianismus daher dem biblischen Modell des Exodus nachgebildet, dem Aufbruch ins verheißene Land durch eine Wüste von Blut, Schweiß und Tränen hindurch. Im Gegenteil: Ohne sich auf Erlösung, wie sie geschrieben steht, auszurichten, verharrt die theologische Erfahrung beim Diesseitigen, Unerlösten; wandert sie, statt auf die güldene Zukunft zu pochen, um der Erfüllung willen ins profane Jetzt ein. Nur ohne Heilsgeschichte gibt es menschliche Freiheit; eine, die nicht vorab determiniert ist.

Eine solche Konstruktion des Messianischen widersetzt sich nicht bloß dem allzu bodenständigen Mythos der Arbeitszionisten oder den apokalyptischen Visionen der Revisionisten. Sie ermöglicht vielmehr eine Perspektive auf den Zionismus, welche auch den theologischen Fallstricken des späten Horkheimers entgeht. Dieser restituierte, im Zeichen des Bilderverbots, den Zug zum Absoluten: Leben, als ob es einen Gott gäbe, im Wissen, daß dessen Existenz unvorstellbar ist. Dieser denkbar anspruchvollsten Form der Entsagung wohnt das Scheitern mit fast ontologischer Notwendigkeit inne. Daher rührt schließlich das Paradox, daß, je problematischer Horkheimer die Tatsache erscheinen mußte, nach Zion heimgekehrt zu sein, ohne den Messias abzuwarten, ihm desto entschiedener seine politischen Stellungnahmen für Israel gerieten. In seinen letzten Veröffentlichungen steht beides, unvermittelt, zusammen: die praktische Forderung, den “Zufluchtsort für Millionen” zu verteidigen und die Trauer, daß dieser Zufluchtsort nur um den Preis der Aufgabe des Besten zu haben gewesen sei.

Erkauft ist diese Solidarität mit eben der resignativen Altersweisheit: Alles Gute geht sowieso dahin. Das Kraftlose dieser Geste ist kaum zu übersehen; kraftlos auch im Hinblick darauf, Empirisches und Absolutes dialektisch aufeinander zu beziehen – der Geschichte in jedem ihrer Momente ein Bild der Befreiung abzuzwingen, wie Benjamin es nannte. In anderen Konstellationen hatte auch Horkheimer, mit der Hoffnung, wie sie nur Hoffnungslosigkeit gebiert, das progressive Moment selbst im Zug zur verwalteten Welt herausgestellt: Entmythologisierung, die das Ende des irrationalen Opferns denkbar werden läßt. Mit Blick aufs Verhältnis von Messianismus und Zionismus gelingt ihm dies nicht. Damit aber entgehen ihm gerade dessen subversive Züge, auf welche ein halbes Jahrhundert zuvor Löwenthal angesprungen war, ohne sie doch zu ergreifen.

Sie bestehen darin, daß Israel von Anfang an keine Chance hatte, als organisch, das heißt aber: mythisch gewachsene Nation zu erscheinen, sondern offensichtlich von Menschenhand erschaffen worden ist – kein Geschöpf, sondern ein “Gebilde”, um die antizionistische Schmähung zu zitieren. “Gebilde” aber ist Benjamins Name für das, was, weil es in keinem Plan der Schöpfung vorgesehen ist, allein den Gegenstand unverstellter Praxis bildet. So auch hier. Nicht biblische Verheißungen sollten ja den Judenstaat, nach dem im gleichnamigen Buch dargelegten Programm seines Erfinders, zum gelobten Land machen, sondern der unwiderstehliche “Weltsammelruf” des Sieben-Stunden-Tages. Entschiedener ist bislang noch keine Staatsräson auf die profane Ordnung des Glücks bezogen worden.


Literatur:

Gerhard Scheit, „Suicide Attack“, Freiburg, Ça ira 2004, 616 S., EUR 29,-