3. Oktober – war da was?

Zum 80. Jahrestag des Massakers in Lingiades

Veröffentlichungsdatum

22. September 2023

Als eine Einheit der Gebirgsjäger-Division »Edelweiß« den Berg hinauf auf ihr Dorf vorrückte, befanden sich die meisten Männer sowie einige Frauen aus Lingiades in einem Nachbardorf jenseits des Bergrückens, um dort bei der Walnussernte zu helfen. Erst auf dem Rückweg sahen sie an den Rauchschwaden, dass etwas nicht stimmte. Was sie anstelle ihres Dorfes vorfanden, waren brennende Ruinen, darin 82 Leichen, 34 davon Kinder unter 11 Jahren; mehrere der Frauen waren vergewaltigt worden.

Dies ereignete sich am 3. Oktober 1943.

Die von Beginn an äußerst brutale deutsche Besatzung Griechenlands hatte sich schon bald mit organisiertem bewaffneten Widerstand konfrontiert gesehen, worauf die Wehrmacht mit Massenmorden an der Zivilbevölkerung und der Zerstörung ganzer Dörfer reagierte. Dies geschah stets mit der heute berüchtigten Rechtfertigung der »Partisanenbekämpfung«, die keineswegs voraussetzte, dass es sich bei den Getöteten um aktive Widerstandskämpfer*innen oder auch nur deren Unterstützer*innen handelte. Lingiades ist hierin auch insofern keine Ausnahme, als eine Verantwortung der Opfer für militärische Angriffe auf deutsche Soldaten noch nicht einmal behauptet worden war. Zwei Tage zuvor war bei einem Angriff auf ein Wehrmachtkommando ein Oberst getötet worden, und der kommandierende General Hubert Lanz hatte daraufhin den Tagesbefehl gegeben, »eine schonungslose Vergeltungsaktion in 20 km Umkreis der Mordstelle« durchzuführen. Es handelte sich also um einen reinen Terrorakt – und Lingiades eignete sich dafür besonders, weil Schüsse und aufsteigender Rauch aufgrund der exponierten Lage wie auf einem Balkon am Berg über dem See weithin, vor allem in der Stadt Ioannina, wahrgenommen werden konnten.

Die griechische Regierung listet (Stand 2020) 118 von einer wissenschaftlichen Kommission geprüfte »Märtyrerdörfer« auf – die hierzulande am ehesten aus dem Nebel des allgemeinen Desinteresses auftauchenden dürften Kalavrita, Kommeno und Distomo sein. Die Zahl der allein von der »Edelweiß«-Division zerstörten Dörfer geht in die Hunderte.

Die Straflosigkeit des Verbrechens

Nachdem die griechische Regierung 1960 die strafrechtliche Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen auf erheblichen Druck der BRD-Regierung hin eingestellt hatte, übergab sie der deutschen Justiz ihre Ermittlungsakten gegen deren Versprechen, die Fälle selbst weiter zu verfolgen und die Täter vor Gericht zu stellen. Die meisten dieser Verfahren wurden sofort eingestellt, zur Anklageerhebung kam es in keinem einzigen Fall. Zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde »Edelweiß«-General Hubert Lanz – allerdings nicht von einem deutschen Gericht, sondern von den Westalliierten 1947 beim »Geiselmord-Prozess«, einem der Nachfolgeprozesse des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg. Lanz kam bereits 1951 wieder frei und machte eine zweite Karriere als sicherheitspolitischer Berater der FDP. Als der Spiegel 1969 über das Massaker von Kefalonia berichtete, bei dem unter Lanz’ Kommando tausende italienische Gefangene erschossen worden waren, beschwerte er sich in einem Brief an die Redaktion, dass hier mal wieder Wehrmachtsangehörige beschuldigt würden, »ohne ein gutes Wort für ihre Opfer und ihre Leistung zu bringen«.1

Kein Wunder, dass Lanz ob solcher Unbotmäßigkeit verärgert war, war er doch von der postnazistischen Gesellschaft, insbesondere in seiner bayrischen Heimat, durchaus anderes gewohnt. Der »Kameradenkreis der Gebirgstruppe e.V.« – prominentestes Mitglied: der frühere Ministerpräsident Edmund Stoiber – veranstaltet bis heute jedes Jahr zu Pfingsten in Mittenwald eine größere Feier zum ehrenden Angedenken an Mordbrenner und Vergewaltiger und erfreut sich hierbei der Beteiligung und logistischen Unterstützung der Bundeswehr, in deren Traditionspflege die Gebirgsjäger seit jeher einen besonderen Raum einnehmen. Das österreichische (!) Verteidigungsministerium untersagte 2007 Angehörigen des Bundesheeres die Teilnahme an der Veranstaltung, während die deutsche Bundesregierung auf Nachfrage erklärte, es gehe dort um das Gedenken »aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«: »Die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und dem Kameradenkreis der Gebirgstruppe sowie die Teilnahme von Soldaten der Bundeswehr […] sind daher nicht zu beanstanden.«2 Die Feiern finden bis heute statt, nur nicht mehr unter dem Ehrenvorsitz des 1982 verstorbenen Hubert Lanz.

»Deutschland […] sendet ein wichtiges Zeichen in die Welt: Straftäter_innen sind in Deutschland nicht sicher vor Verfolgung«3, schreibt Amnesty International über die Anwendung des ›Weltrechtsprinzips‹, das erlaubt, wegen schwerster Menschenrechtsverbrechen auch dann vor deutschen Gerichten zu verhandeln, wenn diese sonst nicht zuständig wären. Wie dürftig es um die von deutschen Gerichten praktizierte Verfolgung der von Angehörigen der Wehrmacht und SS begangenen Menschheitsverbrechen bestellt ist, für die deutsche Gerichte jahrzehntelang zuständig gewesen wären, erwähnt Amnesty International in diesem Zusammenhang nicht. Die Bestrafung der Mörder ist jedoch nicht der einzige Ausdruck von Gerechtigkeit, den die Griechinnen und Griechen von den Deutschen verlangt und nie bekommen haben.

Die verweigerte Entschädigung

Im Rahmen eines Globalabkommens zahlte die BRD 1960 einmalig 115 Mio. D-Mark »zugunsten der aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen griechischen Staatsangehörigen«. Da die Bewohner*innen von Lingiades, Distomo und anderen betroffenen Orten aber massakriert worden waren, um die Bevölkerung einzuschüchtern und für den Widerstand gegen die deutsche Besatzung zu bestrafen, fielen sie nicht unter eine der in dem Abkommen berücksichtigten Kategorien. Die meisten Angehörigen der Opfer gingen leer aus. Nur wenigen ließ die damalige griechische Regierung geringfügige Zahlungen zukommen.

Was zusätzlich aussteht, sind Reparationen für die zerstörte Infrastruktur sowie die Rückzahlung einer Zwangsanleihe aus der griechischen Staatskasse, die die Nazis mit Waffengewalt durchgesetzt, aber offiziell als ausstehende Schuld anerkannt haben. Nicht so die diversen Bundesregierungen, die die Rück- wie auch sonst jede Zahlung stets mit wechselnden Begründungen verweigert haben. Zuerst war es noch zu früh, denn Deutschland läge in Schutt und Asche und könne nicht zahlen; dann, nach ›Wirtschaftswunder‹ und Londoner Schuldenkonferenz, konnte man heraushandeln, dass über den Umfang der Entschädigungszahlungen erst ein zukünftiger Friedensvertrag entscheiden werden würde. Als dann 1990 zwischen BRD, DDR und den ehemaligen Alliierten der 2+4-Vertrag geschlossen wurde, erklärte das nun vergrößerte Deutschland zunächst, dieser sei kein Friedensvertrag und damit gelte die Stundungswirkung des Londoner Schuldenabkommens fort. Nachdem sich diese Position als rechtlich und politisch unhaltbar erwies, behauptete die Bundesregierung stattdessen, Griechenland habe auf alle Ansprüche verzichtet.

Die unmaskierte Schäbigkeit, die Deutschland in dieser Frage an den Tag legte und legt, ist jedoch nicht das Ende der schwarz-rot-goldenen Herrlichkeit. In der Folge der internationalen Bankenkrise von 2008, als Griechenland der Staatsbankrott drohte, exerzierte das von der EU installierte »Troika«-Regime ein beispielloses Verarmungsprogramm nach Maßgabe deutscher Austeritätspolitik. Die dadurch angerichteten Verheerungen im Sozial- und Gesundheitswesen waren derart katastrophal, dass sich ältere Griechinnen und Griechen an die Zeit erinnert fühlten, als die Ausplünderungen und Reglements des NS-Apparats die schlimmste Hungersnot der griechischen Geschichte bewirkt hatten. Nun fühlen sich offenbar die Nachfahren der damaligen Verursacher berufen, den »Pleitegriechen« beizubringen, wie man mit Geld umgeht.

Die Unverfrorenheit, mit der Deutschland heutzutage versucht, die NS-Verbrechen und ihre »Bewältigung«, bei gleichzeitiger Vermeidung der Übernahme jeder damit verbundenen juristischen oder gar materiellen Verantwortung, in außenpolitisches Kapital zu verwandeln, ist nach wie vor beeindruckend. 2014 bat der damalige Bundespräsident Gauck bei einer Gedenkfeier in Lingiades, wie zuvor schon der deutsche Botschafter in Distomo, mit bebender Stimme um »Verzeihung« – wobei man sich fragen musste, wen eigentlich genau und für was, war doch seine Regierung weiterhin der Ansicht, es gebe keine zu begleichende Schuld. Für die Frage der Entschädigung erklärte er sich anschließend nicht zuständig.

»Wir können den Überlebenden den Schmerz nicht nehmen, aber wir können alles dafür tun, für Gerechtigkeit zu sorgen: Niemand darf glauben, Verbrechen ohne Konsequenzen begehen zu können.«4 Mit diesen Worten kündigte Außenministerin Annalena Baerbock letztes Jahr bei einem Staatsbesuch in Kiew an, was russische Täter ihrer Vorstellung nach in Konsequenz der von ihnen in Butscha und Irpin begangenen Kriegsverbrechen zu erwarten haben sollten. Wie so oft lag die Wahrheit auch hier im Unausgesprochenen: Denen gegenüber, die im Auftrag eines anderen als des deutschen Staates gegen Kriegs- und Menschenrecht verstoßen, kennt man hierzulande sehr wohl die Möglichkeit der Strafverfolgung; hat man sich jedoch Ähnliches oder gar Schlimmeres in Namen und Interesse Deutschlands zuschulden kommen lassen, stehen die Chancen um ein Vielfaches besser, dass dies ohne Konsequenzen bleibt und man entsprechend unbehelligt damit leben kann.

Die Frage der Bestrafung der Täter ist mittlerweile von der Geschichte beantwortet worden – mit allen Folgen, die diese Antwort für die postnazistische Gesellschaft hat. Die Frage der Entschädigung ist noch offen, und wie die Antwort letztlich lautet, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie leicht es den Regierenden gemacht wird, ihre bisherige Demonstration der Arroganz der Macht fortzuführen. Fest steht nur: Zu feiern gibt es da nichts.